Das größere Wunder: Roman
fernhalten wollte, weil sie mit euch persönlich nichts zu tun hatten, oder jedenfalls nichts mit euch zu tun haben sollten. Nun muss ich doch darüber sprechen, weil die Sicherheit von uns allen, so dramatisch sich das anhören mag, gefährdet ist.«
»Wegen der Bulgaren etwa?« fragte Sam. »Denen können wir bestimmt unseren Standpunkt klarmachen, gehen wir doch einfach alle zusammen rüber! Gegen eine gepflegte Bambule ist nichts zu sagen, finde ich.«
»Sam, du solltest dich mehr um deine Stimme sorgen und nicht herumschreien. Es geht nicht um die Bulgaren. Oder vielleicht auch um sie, ich weiß es nicht. Knapp gesagt, ist die Anzahl bedürftiger und zugleich gewissenloser Kameraden am Berg heuer noch höher als in den letzten Jahren. Gestern haben Jonas und Pemba zwei Kerle vertrieben, die sich über unseren Sauerstoffvorrat hermachen wollten. Vergangene Woche sind Medikamente weggekommen, es wurden 5 Kilogramm Milchpulver gestohlen, 50 Kilogramm Reis, einiges an Obst und sogar fünf Flaschen Whisky, die für die Abschlussparty gedacht waren, aber das sind Kleinigkeiten, es geht vor allem um die Ausrüstungsgegenstände. Wir vermissen Stirnlampen, Steigeisen, Seile, Batterien, Funkgeräte und mehr.«
»Hört sich an, als wäre einer von uns der Langfinger«, sagte Tiago in der vordersten Reihe, »einer oder mehrere.«
»Was soll denn das heißen?« rief Nina. »Hältst du uns für Diebe?«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich dich oder die zwei Trantüten da hinten oder den Typen mit seiner italienischen Gaunervisage dort für Diebe halte, hör mir wenigstens zu, bevor dir gleich eine Ader platzt! Ich sagte, das klingt so, als wäre es einer von uns! Uns schließt selbstverständlich auch die braven Sherpas mit ein, wir sind doch so ein tolles Team, wir alle zusammen, nicht wahr, Hadan?«
»Ruhe!« schrie Hadan in den anschwellenden Tumult. »Das ist genau das, was ich vermeiden wollte! Erstens halte ich es für unwahrscheinlich, dass sich einer von euch Steigeisen, Sauerstoffmasken und Stirnlampen unter den Nagel reißen wird, weil wir die ganz einfach wiedererkennen würden. Und wenn doch, was macht er dann damit, schleppt er das Zeug in ein paar Wochen in der Unterhose zurück bis nach Lukhla? Außerdem handelt es sich mittlerweile schon um ganze Zelte! Heute bekam ich von Ang Babu aus Lager 2 die Funknachricht, dass sich zwei der Zelte, die wir dort bereits aufgebaut hatten, samt Inhalt in Luft aufgelöst haben. Alles ist weg, Schlafsäcke, Kocher, Nahrung, Lampen. Das war mit Sicherheit keiner von uns.«
»Völlig schwachsinnige Argumentation«, verkündete Tiago mit theatralisch ausgebreiteten Armen. »Einer von uns stiehlt die Sachen und verkauft sie hier am Berg günstig weiter. Es laufen genug zerlumpte Gestalten durch das Basislager, die sich über einen Schlafsack freuen werden, der 400 Euro kostet und den sie für 50 oder gar 20 kriegen!«
»Das würden wir aber merken. Wir würden die Gegenstände wiedererkennen.«
»Kriechst du allen hier in die Zelte nach? Nichts merken wir, gar nichts, vor allem nicht, wenn da welche zusammenarbeiten. Leute, die sich schon lange kennen und für die Bergsteiger aus dem Westen nichts als ahnungslose Goldesel sind.«
»Jetzt reicht es mir mit den Unterstellungen!« rief Hadan. »In unserem Team gibt es nur ehrliche Sherpas!«
»Aber wer tut so etwas?« fragte Nina. »Das ist doch unglaublich!«
»Ich sagte ja, die Zahl der unterprivilegierten und skrupellosen Bergsteiger hat in den letzten Jahren zugenommen. Sie haben nicht viel und nehmen das, was sie noch brauchen, von denen, die es haben, ohne jede Scham.«
»Hier unten ist das ein großes Ärgernis«, ergänzte Sven gewohnt ruhig. »Aber stell dir mal vor, du kommst bei Einbruch der Dunkelheit nach achtzehn Stunden Marsch vom Gipfel zurück, und dein Zelt im Hochlager ist weg. Das kann dein Todesurteil sein.«
»Genau so ist es«, sagte Hadan, »und deshalb habe ich euch heute zusammengerufen. Ihr sollt wissen, wie die Dinge stehen. Wir können euch garantieren, dass wir wachsam sein werden. Wir können euch nicht garantieren, dass nicht trotzdem etwas passiert. Ihr müsst wissen, worauf ihr euch einlasst.«
»Ich fordere Zeltkontrollen bei allen«, sagte Tiago.
»Und wie geht es nun weiter?« fragte Sam.
»Wir werden Wache schieben.«
»Wache schieben? Rund um die Uhr?«
»Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig. Das betrifft euch aber nicht, darum kümmern wir uns. Ich werde zusätzliche
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