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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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hatte, war das Gesicht weitgehend unversehrt geblieben, doch sonst fanden sich die Projektile überall, an den Armen, am Bauch und an der Brust.
    »So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte Dr. Steudte kopfschüttelnd. »Hier kann ich die Kugeln nicht entfernen, das hält er nicht aus, auch wenn sie nicht tief eingedrungen sind, das geht nur unter Narkose. Darf ich Ihr Telefon benützen?«
    Während der Arzt telefonierte, schwiegen alle. Vera fand als erste die Sprache wieder.
    »Habt ihr eine Ahnung, wer das war?«
    Werner zuckte die Schultern.
    »Das können viele gewesen sein. Einer von den Kerlen am See, aber auch irgendein Psychopath, der sein neues Spielzeug ausprobieren wollte.«
    »Weißt du, was ich …«, begann Jonas, doch Zach legte einen Finger an die Lippen, weil der Arzt zurückkam.
    »Ich kann es mir vorstellen«, sagte Werner.
    Der Ambulanzwagen hielt nach einer Viertelstunde vor dem Haus. Beim Anblick der Sanitäter in den roten Jacken begann Mike zu schreien.
    »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Jonas, »das sind keine bösen Männer. Sie wollen dir helfen. Sie bringen dich ins Krankenhaus, und dort machen sie dich gesund.«
    Mike krallte sich an Jonas’ Oberarm fest und schluchzte von neuem los.
    »Mike, ich komme natürlich mit. Ich fahre mit dir im Rettungsauto und passe auf dich auf. Die haben da eine Sirene drin, die unglaublich laut ist, du hast sie auf der Straße schon oft gehört. Vielleicht schalten sie sie ja sogar einmal für dich ein.«
    »Das glaubst auch nur du«, sagte der ältere der beiden Sanitäter schroff, ein nervöser Mann mit Schnauzbart und Fettwülsten am Hals.
    »Was glaube ich?«
    »Dass du bei uns mitfährst. Wir sind kein Taxiunternehmen. Wir laden den ein und basta. Und für den Gebrauch der Sirene gibt es Vorschriften. Du kannst …«
    Zach war von seinem Stuhl aufgestanden und hatte sich vor den Sanitäter gestellt. Schweigend blickte er von oben auf ihn herab.
    »Wir könnten eine Ausnahme machen«, sagte der zweite Sanitäter heiser.
    »Natürlich, richtig«, sagte der erste. »Die Sirene will er hören? Können wir gern einschalten, wenn er das möchte.«
    »Ich fahre hinter euch her«, sagte Zach, mehr zu den Sanitätern als zu Jonas. »Wir sehen uns im Krankenhaus.«
     
    Im Krankenhaus stand ein großes, helles Zimmer mit zwei Betten und einem großen Fernseher bereit. Ein Anruf Piccos beim Chefarzt hatte für einen sofortigen Operationstermin gesorgt. Eine Krankenschwester brachte Mike ein Beruhigungsmittel, und die Sanitäter verabschiedeten sich mit aufmunternden Worten, nachdem Zach ihnen etwas Kleingeld zugesteckt hatte.
    Geld oder Gewalt, dachte Jonas, nur so bringt man die Menschen dazu, sich anständig zu benehmen.
    Das Medikament machte Mike rasch matt und schläfrig, und so protestierte er nicht, als er in seinem Bett hinaus gerollt wurde, ohne dass Jonas an seiner Seite blieb.
    Zach fuhr nach Hause, um herauszufinden, wer geschossen hatte, und Jonas wartete mit Vera und Werner im Aufenthaltsraum der Schwestern, weil die Cafeteria schon geschlossen war und er nicht im Zimmer bleiben wollte, ohne zu wissen warum.
    Werner ging es ähnlich. »Ich mag dieses Zimmer nicht.«
    »Was daran magst du nicht?« fragte Vera. »Gegen die Höhle, in der du lebst, ist das der reinste Lichtpalast.«
    »Es geht nicht immer nur um Licht«, sagte Jonas.
    Werner schenkte drei Tassen Kaffee ein und legte einen Geldschein in die offene Kasse neben der Maschine.
    »Das war garantiert einer von denen am See.«
    »Was macht dich da so sicher?« fragte Vera.
    »Ich weiß es einfach. Jonas, was meinst du?«
    »Mir egal.«
    »Was heißt das?«
    »Mir egal, wer das war.«
    »Wie bitte? Vor zwei Stunden wolltest du denjenigen noch grillen und vierteilen, und nun ist es dir egal?«
    »Ganz recht. Hauptsache, alles geht gut aus.«
    Werner setzte sich ihm gegenüber an den wackeligen Tisch, auf dem sich Modezeitschriften und Reisekataloge stapelten.
    »Jonas, was ist los?«
    Jonas sah ihn an. Keiner von beiden zwinkerte. Er sprach es nicht aus, er dachte es nur.
    »Du bist ja komplett wahnsinnig«, rief Werner. »Wieso denn? Das ist doch völlig harmlos, die ganze Sache, das sind oberflächliche Wunden!«
    Ich habe trotzdem ein schlechtes Gefühl, dachte Jonas.
    Quatsch, hörte er Werners Stimme in seinem Kopf.
    Kein Quatsch, dachte er. Etwas Schlimmes passiert.
    Es passiert nichts Schlimmes. Denk doch nicht so was.
    Man kann nicht immer wegdenken. Es ist da. Ich weiß

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