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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Leute brauchen. Marc Boyron war so freundlich, sich uns anzuschließen, und bringt vertrauenswürdige Westler und Sherpas mit. Je größer das Team ist, desto besser in diesem Fall.«
    »Wie ein postapokalyptischer Albtraum«, sagte Nina. »Es gibt keine staatliche Autorität, die Ordnung zerfällt, es bilden sich Gruppen und Grüppchen, die stärkeren Gruppen beginnen die kleineren zu terrorisieren …«
    »So schlimm ist es auch wieder nicht«, sagte Hadan über Tiagos höhnisches Lachen hinweg. »Wenn alle einverstanden sind, machen wir weiter wie geplant. Ihr steigt in drei Tagen bis ins Lager 2 hoch und übernachtet da. Ihr werdet alles Nötige vorfinden. Ab sofort ist jedes Lager rund um die Uhr von einem von uns besetzt.«
    »Das ist ja sehr beruhigend«, sagte Tiago. »Da schlafe ich gleich viel besser.«
    »Eines noch«, rief Hadan in die allgemeine Aufbruchsstimmung. »Unternehmt nichts auf eigene Faust! Beginnt keine Fehden! Wenn ihr etwas Verdächtiges seht, kommt zu mir und berichtet, und ich entscheide, wie es weitergeht. Wegen eines verschwundenen Schokoriegels zettle ich keinen Krieg an.«
    »Ich schon«, sagte Tiago und stieß einen der Sherpas am Zeltausgang zur Seite.
     
    Nach der Zusammenkunft wurde Jonas von Marc abgeholt, der ihn in das Lager des argentinischen Teams führte, mit dessen Arzt er seit Jahren befreundet war und der Jonas zur Begrüßung nicht eine Tasse Tee oder eine Flasche Bier, sondern einen Aschenbecher reichte. Marc stellte die beiden vor, der Arzt hieß Paco.
    »Na dann mal her mit dem Händchen«, sagte er. »Gleich wissen wir, wie es dem Gipfelstürmer geht.«
    »Was wird das jetzt?« fragte Jonas, während er zusah, wie ihm Paco in den Zeigefinger stach und mit einer Pipette ein paar Tropfen Blut auffing.
    »Wir bestimmen deine Blutsättigungswerte. Um sich an die Höhe zu gewöhnen, bildet dein Körper verstärkt rote Blutkörperchen, und gleichzeitig wird die Sauerstoffbindung gesteigert. Bei manchen geht das schnell, bei anderen langsamer. Leute, deren Sättigungswert nicht über 80 liegt, sollten nicht mal zu Lager 1 hochsteigen. Sie tun es natürlich trotzdem. Gestern sind zwei Australier angekommen, die heute gleich weiter aufgestiegen sind. Entweder sie haben Glück und merken selbst rechtzeitig, wie mies es ihnen geht – und es wird ihnen bei Gott mies gehen –, oder sie verbringen die nächsten tausend Jahre da oben. Ein Pflaster noch, damit das Kind nicht weinen muss. So. Bin gleich zurück.«
    Der Arzt verschwand im Zelt nebenan.
    »Guter Kerl«, sagte Marc leise. »Begnadeter Arzt und komischer Kauz. Hat schon die Pest gehabt.«
    »So alt wirkt er aber auch wieder nicht.«
    »Nein, im Ernst.«
    »Er hat die Pest gehabt?«
    »Ja, fast wäre er dran gestorben.«
    »Wo kriegt man denn die Pest?«
    »Keine Ahnung. Irgendwelche Ratten vielleicht?«
    »Ist ja widerlich. Was hältst du eigentlich von diesen Diebstählen und von Hadans Gegenmaßnahmen?«
    »Ehrlich? Er dramatisiert das Ganze ein wenig. Hör mal, bist du eigentlich noch mit Marie zusammen?«
    Die Frage kam so unerwartet, dass Jonas eine Weile dastand und schweigend auf das absurd kleine Pflaster an seinem Finger starrte. Trotz der Monate, die vergangen waren, fühlte er mit einem Schlag wieder dieses Brennen, das sich in seinem Bauch auszubreiten begann.
    »Tut mir leid«, hörte er Marc sagen.
    Stumm betrachtete Jonas neben dem Zelteingang den Wimpel eines Fußballvereins. Was da hing, war ihm egal, es hätte auch ein Speiseplan oder ein Reklamezettel für eine der improvisierten Bars im Lager sein können.
    Der Arzt, der aus dem Zelt trat, eine Zigarette hinter dem Ohr, eine im Mundwinkel, bemerkte Jonas’ Blick.
    »Der muss hinauf. Meines Wissens liegt keine Devotionalie der Boca Juniors auf dem höchsten Punkt der Erde, und das muss sich dringend ändern. Einer von unseren Jungs wird dieses kleine Stück Tuch hinaufbringen, und dann ist die Welt so, wie sie sein sollte. Interessiert ihr euch für Fußball?
    »Hält sich in Grenzen«, antwortete Jonas.
    »In engen Grenzen«, ergänzte Marc.
    »Dann könnt ihr keine guten Menschen sein. Weil ich aber einer bin, verrate ich euch, dass der Kerl hier absolut gipfeltauglich ist. Dein Ergebnis ist besser als das der meisten in meinem Team, deine arterielle Blutsättigung beträgt 92 Prozent. Wie oft warst du denn schon hier?«
    »Das ist das erste Mal.«
    »An anderen Achttausendern aber schon?«
    »Leider nein. Ich war nie höher als auf 7000

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