Das größere Wunder: Roman
Metern.«
»In diesem Fall darf ich zu einem ausgeprägten Naturtalent gratulieren. Sollten in meinem Team alle schlappmachen, würde ich dich bitten, die Juniors mitzunehmen. Machst du das?«
Jonas versprach es. Nachdem Paco noch ein paar motorische Tests mit ihm durchgeführt hatte, kehrten Jonas und Marc zum Messezelt ihrer Expedition zurück, wo es keine guten Nachrichten von Hank gab. Er sei ins Koma gefallen.
»Da muss etwas geschehen«, sagte Marc. »Wohin haben sie ihn denn gebracht? Ich werde ein paar Telefonate führen.«
26
Diese Wochen, in denen er nicht viel anderes unternahm, als mit Vera im Bett zu liegen, ihr seine Lebensgeschichte zu erzählen, sich ihre anzuhören, zu essen, zu trinken und mit ihr die Welt neu zu erkunden, wieder und wieder, rochen noch Jahrzehnte später nach Vanille. Es war ihr Parfüm, das ständig und überall in der Luft lag, ihr Geruch, der immer um ihn zu sein schien, selbst wenn sie in der Schule saß und er sich in der Bibliothek Dr. Heins Vortrag über den Nationalismus des 19. Jahrhunderts anhörte.
Meist kam sie am frühen Nachmittag. Er hörte ihr Fahrrad auf dem Kiesweg vor dem Haus knirschen und bekam sofort Herzklopfen, fühlte diese süße Schwäche, es war, als ob aller Geist ihn verließe. Womit er sich gerade beschäftigt hatte, ob er Hausaufgaben machte oder unter dem Mikroskop eine Fliege sezierte, alles wurde beiseitegeschoben, und kurz darauf öffnete er die Haustür, ein unkontrollierbares Lächeln im Gesicht. Keine Minute später lagen sie im Bett und drängten ihre Körper aneinander.
Das Geheimnis, das sich Jonas mit ihr offenbarte, war so groß und so tief, dass von Tag zu Tag sein Staunen und seine Ehrfurcht vor dem wuchsen, der die Existenz all dessen möglich gemacht hatte. Die Natur? Gott? Gleichgültig, wie man es benannte, etwas hatte einst die Dinge in Gang gesetzt, an deren Ende ein Mann und eine Frau miteinander etwas schufen, das größer war als sie.
Sie lagen am frühen Abend auf schweißnassen Laken und diskutierten über Musik, als plötzlich schrilles Gebrüll durchs Haus hallte. Jonas hatte das Gefühl, jemand hätte ihm einen Tritt in den Magen versetzt. So schrie nur einer, und so schrie er bloß, wenn er wirklich verzweifelt war.
Jonas hechtete aus dem Bett, fuhr in seine Jeans und streifte sich ein Hemd über, das er auf dem Weg nach unten zuknöpfte. Im Flur standen Werner und Regina vor dem winselnden Mike, dessen Gesicht vom Weinen verzerrt war und der eine blutige Hand hochhielt.
»Was ist passiert?« rief Jonas. »Hast du die Hand in den Mixer gesteckt?«
»Schau genau«, sagte Werner, »es ist ja nicht bloß die Hand!«
Jetzt erst entdeckte Jonas die Blutspuren auf Mikes T-Shirt und Hose. Er sah den heulenden Mike vor sich und war wie gelähmt.
Vera, die Jonas gefolgt war, wollte sich um Mike kümmern, doch er stieß sie zurück. Regina war es schließlich, die zum Telefon lief und den Hausarzt verständigte.
»So, wo ist dieser …«
Jonas rannte in den Garten. Sascha saß unter seinem Lieblingsbaum und machte Yoga. Mit geballten Fäusten stampfte Jonas auf ihn zu. Ehe er ihn erreicht hatte, hielt ihn Werner am Arm fest.
»Das bringt doch nichts! Du weißt ja noch gar nicht, was passiert ist!«
»Nein, aber ich weiß, dass dieser Armleuchter wieder mal nicht da war!«
»Reiß dich zusammen! Das ist nicht der richtige Zeitpunkt! Da drinnen wartet jemand auf dich, der dich braucht!«
In der offenen Haustür tauchte die Gestalt des weinenden Mike auf. Noch mehr als seine Erscheinung ließen sein gequältes Schluchzen und seine Rufe Jonas alle Wut vergessen. Er fühlte sich nur noch hilflos.
Der Hausarzt, Dr. Steudte, traf nach einer Viertelstunde ein. Es war schwierig, Mike so weit zu beruhigen, dass eine Untersuchung möglich wurde, denn er strampelte und tobte, bis Jonas ihn in den Arm nahm und Vera den Kater gebracht hatte.
»Sieh mal, Mike, Dagobert ist auch da! Dagobert ist da, der will von dir gestreichelt werden, siehst du? Und ich bin auch da. Alles ist gut.«
Ein wenig beruhigte Mike sich, trotzdem war es nicht einfach, ihn zu entkleiden. Zach gelang es schließlich, und Jonas hätte sich dabei am liebsten die Ohren zugehalten.
Es waren Einschusslöcher, Dr. Steudte zählte dreißig und mehr. Offenbar hatte jemand mit einem Kleinkaliber oder einer Luftdruckpistole auf Mike geschossen, der Arzt wollte sich nicht festlegen, er sei kein Fachmann. Wohl weil Mike es mit den Händen geschützt
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