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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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willst du denn mit einer Schere?«
    »Bitte besorgen Sie mir eine.«
    »Also ich weiß nicht …«
    »Bitte!«
    Jonas sah der Schwester in die Augen. Schließlich nickte sie. Mit der Schere, die sie ihm brachte, schnitt Jonas seinem Bruder unterhalb des riesigen Kopfverbands, den er sich gar nicht genauer ansehen wollte, einige Haare ab, wickelte sie in ein Taschentuch und steckte es ein.
     
    Mike starb zwei Tage später. Das Begräbnis zog wie ein Spuk an Jonas vorüber, er konnte sich schon eine Woche darauf an kein einziges Detail mehr erinnern, er wusste nicht einmal, ob seine Mutter unter den Trauergästen gewesen war oder nicht. Er lag in Mikes Zimmer, betrachtete seine Besitztümer, seine Katzensilbersteine, seine Zeichnungen, seine Tierbilder, und dämmerte durch den Tag.
    »Komm da raus«, sagte Vera. »Du kannst nicht ewig grübeln und trauern. Du musst ihn gehen lassen.«
    »Ich frage mich gerade, ob man, wenn es Wiedergeburt und Seelenwanderung gibt, immer mit denselben Menschen zu tun hat.«
    »In Kiel schon.«
    »Wie?«
    »Entschuldige. Ich dachte, ich bringe dich zum Lachen.«
    »Stell dir vor, du stirbst, und dann erfährst du in einem Zwischenreich die genauen Hintergründe des Lebens, das du gerade hinter dir hast. Deine Mutter war in deinem vorigen Leben deine Schwester, und ihr habt über das Erbe des Onkels gestritten, ehe es über Vermittlung des Ortspfarrers zur Versöhnung kam. Deine Ehefrau war eine gute Freundin, sie hat dir immer Geld geliehen, du bist früh gestorben. Deine beste Freundin im vergangenen Leben war deine Großmutter im Leben davor, sie hat dir vorgesungen und dein Lieblingsgericht gekocht, Gemüseauflauf, den du im Leben danach nicht leiden konntest. Die große Liebe deines vorvergangenen Lebens, im letzten Leben seid ihr einander nur kurz begegnet, im Kindergarten, oder buchstäblich nur einmal, an der Kasse eines Supermarkts, ihr habt einander in die Augen geschaut und gespürt, da ist etwas, doch ehe einer von euch reagieren konnte, war die Situation vorbei, und du saßt mit deinen Einkaufstüten im Auto neben deinem Freund, von dem du immer das Gefühl hattest, er sei dir eigentlich fremd. Du triffst sie alle da, im Zwischenreich, als das, was sie wirklich sind. Und du redest mit ihnen, wie ihr beide dies und jenes im vergangenen Leben gesehen habt.«
    »Jonas …«
    »Und angenommen, du warst im Leben geistig behindert: In diesem Zwischenreich bist du es natürlich nicht. Du begreifst alles, du bekommst alle Informationen. Aha, der hat mich geschlagen. Aha, die hat mich immer zum Arzt gebracht und war sehr geduldig. Aha, der hat auf mich aufgepasst und war immer für mich da. Du verstehst dein Leben im Nachhinein. Und du triffst sie alle wieder. Und du stehst mit deinem Bruder an der Rezeption und sagst: Mann, ist das dumm gelaufen bei der Geburt. Und ihr trinkt miteinander einen Cocktail.«
    »Jonas, ich wünsche dir, dass es genau so kommt.«

27
     
    Das Wetter schlug um.
    Marc hatte es vorhergesagt, er behauptete, an diesem Berg noch nie eine so lange Schönwetterperiode erlebt zu haben, und wenn eine solche zu Ende ging, dann meist mit heftigen Stürmen und einem Kälteeinbruch.
    Statt erstmals zu Lager 2 aufzusteigen, saß das Team im Basislager fest und vertrieb sich so gut wie möglich die Zeit. Carla und Ennio hielten unermüdlich ihre Vorträge über Rom, die Investmentbankerin, deren Namen Jonas nicht behalten konnte, telefonierte stundenlang oder flirtete mit Mitgliedern anderer Teams, Tiago und Anne blieben in ihrem Zelt, hüteten ihr Eigentum und stritten sich, die Bergführer schauten mit den Sherpas auf ihren Notebooks romantische Komödien an, und Nina gewann im Backgammon.
    »Eigentlich liebe ich schlechtes Wetter«, sagte sie. »Man hat das Gefühl, man kann ohne Gewissensbisse zu Hause bleiben und braucht niemanden zu treffen. Aber hier ist das anders.«
    Jonas wusste ebenso wenig mit sich anzufangen und war froh, dass ihn Sarah gebeten hatte, ihr eine Vorlage für ein Tattoo zu zeichnen, das sie sich noch im Basislager vom Barkeeper der Buddha Bar stechen lassen wollte.
    »Wo hast du das gelernt?« fragte Marc, der mit einem Bier vorbeigekommen war.
    »Zeichnen? Das ist bloß Übung.«
    »Ich meine, woher weißt du, welches Tattoo jemandem gefallen könnte?«
    »Marc, ich habe keine Ahnung. Dir ist langweilig, wie?«
    »Du klingst gereizt.«
    »Ich bin auch gereizt! Tut mir leid, dieser Husten ist hartnäckig, solche Schmerzen hatte ich noch nie in

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