Das größere Wunder: Roman
der Brust. Na ja, fast nie. Ich weiß, es klingt lächerlich.«
»Es ist alles andere als lächerlich, aber wer so etwas selbst nie erlebt hat, wird dich nicht verstehen. Und ich kann dir verraten, es wird immer schlimmer, je länger du hier bist.«
»Das heißt, den Hustensaft, den mir Helen gegeben hat …«
»… kannst du hinter die Felsen kippen. Er wird dir nichts nützen. Wenn er überhaupt irgendeine Wirkung hat, macht er dich bloß schwächer. Ich bin generell der Meinung, man sollte auf solchen Bergen keine Medikamente nehmen, es sei denn, die Situation erfordert es.«
»Nicht mal Kopfschmerztabletten?«
»Glaub mir: Du gewöhnst dich schneller an diese Umgebung, wenn du das Leiden erträgst. Apropos Leiden, wollen wir heute wieder in diese Bar mit der grauenvollen Musik? Mir hat die Frau hinter der Theke gefallen.«
»Mir auch, aber wie wir wissen, besiegt Akustik die Optik. Das Gehör beansprucht unsere Aufmerksamkeit weitaus mehr als … Schau nicht so, natürlich komme ich mit.«
Als die Zeichnung fertig war, betrachtete er sie eine Weile, und dabei fiel ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einem anderen Tattoo auf.
Sie stand in einem weißen Bikini auf der steinernen Plattform, von der Sportler über zwanzig Meter hinab in den Rio Santos sprangen, groß, lange dunkle Haare, gebräunte Haut. Manchmal fanden hier auch Wettbewerbe statt, doch sie schickte sich offenkundig an, zu ihrem eigenen Vergnügen hinunterzuspringen.
Später hatte sich Jonas gefragt, ob er sich vor allem wegen der Kulisse in sie verliebt hatte, wegen des tiefen, langgezogenen Canyons, der Landschaft, des warmen Lichts der Sonne auf erstarrten Lavamassen, die der benachbarte Vulkan vor Jahren über die Hänge gewälzt hatte, so wie man sich manchmal auf Reisen in einen Menschen verliebte, weil man sich in eine neue Stadt verliebt hatte. Aber natürlich war sie es.
»Weißt du, was du hier tust«, fragte er, »oder bist du selbstmordgefährdet?«
Sie wandte sich um, und nun erst sah Jonas, wie umwerfend diese Frau wirklich war. Da war etwas Geheimnisvolles in ihrem Gesicht, das er nicht zuordnen konnte. Sie war nicht perfekt, ihre Bewegungen etwa waren ungelenk, fast schüchtern, und sie ließ die Schultern hängen, aber sie hatte eine Aura von Größe, von Einzigartigkeit, er konnte es sich nicht erklären, und er hatte so etwas nie zuvor gesehen. Er war ihr verfallen, sofort.
»So schwer ist das gar nicht«, sagte sie und musterte ihn neugierig. »Willst du es nicht auch probieren? Zieh dich aus!«
Mein Gott, diese Stimme, dachte Jonas, dieser Blick, wenn die mich nicht auf der Stelle heiratet, schmeiße ich mich mit einem Kopfsprung da hinunter.
»Meinst du? Eigentlich bin ich mehr wegen der Aussicht hier.«
»Du musst nur darauf achten, mit den Füßen voran einzutauchen. Nach vorne solltest du nicht kippen, sonst überschlägst du dich und knallst mit dem Gesicht oder mit den Füßen aufs Wasser.«
»Und was ist dann?«
»Na ja, wenn du Pech hast, bist du querschnittsgelähmt. Wenn du Glück hast, bist du gleich tot.«
»Wie bitte?«
»Okay, das war vielleicht ein wenig übertrieben. Passieren kann so etwas allerdings schon. Man sollte hier wissen, was man tut.«
»Dieses kleine Tattoo an deinem Arm, was bedeutet es?«
»Ich sage es dir, wenn du springst.«
Sie drehte sich lächelnd um und verschwand in der Tiefe.
Heiliger Himmel, dachte Jonas, heiliger Gott, steh mir bei.
Sich einer Gefahr auszusetzen ist einfach, hatte Zach immer gesagt. Am Anfang und am Ende steht der Entschluss. Dazwischen darf es nichts geben. Es geht bloß darum, nicht zu denken. Nur bestimmte Leute sind dazu imstande. Vor allem solche, die nichts zu verlieren haben.
Jonas warf einen Blick in die Schlucht. Die Frau war ans andere Ufer geschwommen und winkte ihm, als wolle sie sich verabschieden.
Was für ein Gefühl, dachte Jonas während des Falls. Was für ein Rauschen, was für ein Geruch, was für ein Leuchten, was für eine Kraft, welch Wildheit, was für eine Präzision, was für eine Erschütterung, was für ein Prickeln, was für eine Überraschung, was für eine Musik, was für ein Wind, welch Stolz, wie schön, was für eine Leichtigkeit, was für ein Wahnsinn, was für ein Himmel, was für eine Zeit, was für eine Erfahrung, was für ein Leben. Und er fiel und fiel und fiel. Und er fiel noch immer. Und fiel.
In der Sekunde, als er auf dem Wasser aufschlug, sah er sie am Ufer sitzen. Er fing einen Blick von ihr auf, der
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