Das größere Wunder: Roman
es.
Quatsch.
Jonas griff nach den Zeitschriften und dachte: Lieber Gott, lass alles gut werden, hilf ihm. Hilf mir.
»Was spinnt ihr zwei da wieder rum?« fragte Vera.
»Männer«, sagte eine alte Krankenschwester und zündete sich eine filterlose Zigarette an. »Die sind alle ein bisschen komisch.«
»Halten Sie die beiden für Männer?« fragte Vera.
»Nein, aber für komisch.«
»Sagen Sie, ehrenwerte Mutter, ist Rauchen hier nicht verboten?« fragte Werner.
»Du bist auch hier verboten. Also?«
»Ui, hier stehen ja ganz tolle Witze«, sagte Jonas. »Was ist orange und geht auf einen Berg?«
»Keine Ahnung«, sagten Werner und die Krankenschwester zugleich.
»Eine Wanderine.«
Es waren achtundzwanzig Zeitschriften, und Jonas hatte sie alle gelesen, war im Bilde über jede Affäre jeder europäischen Prinzessin, über das Alkoholschicksal von Schlagersängern, über die Krankheiten ehemaliger Kinderstars und über den tiefen Fall berüchtigter Manager, als plötzlich der zerknirschte Sascha vor ihm stand und sich mit Tränen in den Augen dafür entschuldigte, Mike am Waldrand allein gelassen zu haben. Jonas winkte ab und schickte ihn wieder nach Hause. Er wollte nicht mit ihm zusammen warten, niemanden außer Vera und Werner wollte er bei sich haben.
»Das dauert ganz schön lange«, sagte Vera.
Jonas versuchte in den Mienen der Schwestern zu lesen, die kamen und gingen, doch ihnen war nicht anzumerken, ob etwas Ungewöhnliches im Gange war. Er öffnete ein Fenster, atmete die klare Nachtluft aus dem Park gegenüber, schloss es geräuschlos. Er zählte die Linien in der Maserung des Fensterrahmens, errechnete alle Primzahlen bis 1000, sagte sämtliche amerikanische Präsidenten auf.
Lieber Gott, bitte hilf uns.
Es war beinahe Mitternacht, als ein Mann im weißen Ärztekittel das Schwesternzimmer betrat und nach einem Blick in die Runde zielstrebig auf Jonas zuging.
»Sie müssen der Bruder sein. Ich bin Dr. Innitzer.«
»Haben Sie Mike operiert? Wie geht es ihm?«
Der Arzt senkte den Blick auf die Papiere, die er in der Hand hielt.
»Nicht ich habe operiert, das war der Chefarzt. Es hat leider Komplikationen gegeben, die … Ich kann Ihnen auch nicht genau sagen, was dazu geführt hat, das werden die Untersuchungen hoffentlich …«
»Was wozu geführt hat? Reden Sie doch!«
»Es muss die Anästhesie gewesen sein. Der Körper Ihres Bruders hat darauf, sagen wir, sehr ungünstig reagiert. Es ist zu einer Hirnschwellung gekommen.«
»Sie wollen mir sagen, mein Bruder ist tot, ist es das?«
»Nein, aber sein Zustand ist kritisch. Um ehrlich zu sein, es sieht nicht gut aus.«
Es war, als würde Jonas für einen Moment aus der Welt gezogen. Von fern nahm er Werners Aufschrei wahr.
»Sie haben ihn verpfuscht! Sie haben ihn umgebracht!«
»Ich habe gar niemanden verpfuscht, denn ich war bei der OP gar nicht anwesend. Und es wurde auch niemand umgebracht. Einen Kunstfehler kann ich mit Sicherheit ausschließen, es waren schlicht tragische Umstände … Jede Operation ist ein ernster Eingriff, man hat nie hundertprozentige Garantie, dass alles gutgeht. Gerade die Anästhesie …«
Den Rest hörte Jonas nicht. Er schloss sich in der Toilette ein und schnappte nach Luft, bis er sich übergeben musste. Dann weinte er. Dann trat er auf den Spülkasten ein, schrie, trommelte gegen die Wand. Dann weinte er, bis er merkte, dass er nicht mehr normal denken konnte.
Vor der Tür wartete Vera. Sie schloss ihn in die Arme, ohne dass er ihre Berührung fühlte. Wie lange sie da schluchzend standen, konnte er später nicht sagen.
»Gott ist wirklich ein Nazi«, murmelte er.
»Was?«
»Können wir zu ihm?« fragte Jonas den Arzt.
Ich muss sie anrufen, dachte er unablässig, während er durch fahl beleuchtete Gänge zur Intensivstation geführt wurde, sie muss herkommen, sie muss sich verabschieden. Verabschieden, wieso verabschieden, es wird alles gut.
Was er in diesem Bett unter einem Beatmungsgerät liegen sah, umgeben von Schläuchen und Maschinen mit Kontrollmonitoren, erinnerte ihn nur entfernt an seinen Bruder. Als er näher trat und die Hände erkannte, die unter dem Laken hervorragten, überwältigte ihn ein Schmerz, dunkler als jede Blindheit, heißer als die Hölle.
Seine Hände. Seine und meine Hände. Liebe Hände. Mein Bruder. Mein Freund. Mein Schützling. Mein Kind. Hier liegt er. Und ich habe es nicht verhindert.
»Haben Sie eine Schere?« fragte Jonas die Schwester.
»Was
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