Das größere Wunder: Roman
herum schwang und pulsierte und in Bewegung war: eine Empfindung, die ihm allenfalls von den intimsten Momenten mit Vera her bekannt war.
Ob es an ihrer suggestiven Überzeugungskraft lag, ob sie ihm irgendeine geheimnisvolle Wahrheit enthüllt hatte, konnte er nicht ermessen, er fühlte nur deutlich, wie sich ihm hier das Wesen eines Phänomens erschloss. Eine Welle, fließende Energie, und er. Alles eins.
»Du hast unrecht«, sagte er, als er zerschlagen aus dem Wasser stieg. »Nicht jede Welle ist anders. Im Gegenteil. Sie sind alle gleich. Ganz egal, wie hoch sie sind.«
»Und du hast einen Kopf wie eine Tomate!«
»So klein?« fragte er und merkte plötzlich, wie übel ihm war.
Den Rest des Tages verbrachte er winselnd in der Hängematte, die im Schatten eines Vordachs zwischen zwei Wäschestangen gespannt war, und ließ sich von Werner Eisbeutel bringen.
»Wie kann man nur so blöd sein? Wie kann man sich zwei Stunden lang ins Meer stellen, ohne wenigstens eine Kappe aufzusetzen?«
»Was nützt denn eine Kappe? Die reißt dir doch die erste Welle vom Kopf!«
»Du musst viel trinken«, drängte Werner, »los, rein damit. Ich mache dir dann noch eine Suppe, mon petit chou. So ein Sonnenstich kann gefährlich sein. Du bist sowieso schon verrückt, und nun kocht auch noch dein Hirn. Möchtest du vielleicht eine Flasche Olivenöl? Gratuliere, die nächsten drei Tage kannst du vergessen, das hast du super gemacht.«
Am Abend löffelte Vera Joghurt auf seinen nackten Körper und verteilte ihn sorgfältig.
»Und das hilft?«
»Das hilft besser als alles andere. Deine Haut ist von der Sonne ausgetrocknet und braucht Feuchtigkeit.«
»Ehrlich gesagt halte ich das für fragwürdig. Joghurt enthält mit Sicherheit keine heilungsfördernden Inhaltsstoffe, sondern nur Keime, die eine Entzündung eher begünstigen könnten. Aber fühlt sich gut an.«
»Ach? Tut es das?«
»Nicht zu leugnen.«
Vera sperrte die Schlafzimmertür ab und legte sich neben ihn.
»Zehn Minuten müssen wir warten.«
»Zehn Minuten? Das ist ja ewig!«
»So lange muss er aber drauf bleiben. Wieso willst du eigentlich nicht wahrhaben, dass du keine Sonne verträgst?«
»Erstens hast du mich da rausgeschickt, zweitens weiß ich nicht, was das heißen soll. Zuviel Sonne verträgt niemand.«
»Davon rede ich ja nicht. Es gibt nun mal Menschen, die grundsätzlich keine Sonne vertragen, das hat nichts mit Sonnenöl zu tun. Sie sollten es bloß wissen.«
»Willst du mir irgendetwas mitteilen?«
»Du bist einfach nicht geschaffen für zuviel Licht. Aber das musst du doch schon selbst gemerkt haben.«
»He, ich bin doch keine Fledermaus!«
»Ich weiß nicht. Irgendwie schon.«
An den darauffolgenden Tagen saß Jonas mit Schirmkappe und T-Shirt im Schatten der Felsen, fütterte streunende Hunde mit Frühstücksresten, sah Vera und Werner beim Schwimmen zu oder blätterte durch die Magazine, die Vera am Busbahnhof gekauft hatte. Ein richtiges Buch konnte er nicht lesen, dazu war ihm viel zu schwindelig. Sein Erlebnis in den Wellen bereute er trotzdem nicht. Er wusste, dass er etwas Wichtiges erfahren hatte, und brannte darauf, noch größere Wellen kennenzulernen.
Der alte Mann, den Jonas schon am ersten Tag gesehen hatte, tauchte jeden Morgen zwischen den Felsen auf. Er schien eine Weile auf eine bestimmte Stelle am Strand zu starren und verschwand dann wieder. Neugierig geworden, spazierte Jonas zu dem Ort, der dem Alten so wichtig zu sein schien, doch er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken.
»Genau da war es«, sagte hinter ihm eine Stimme auf Französisch. »Komm lieber hierher.«
»Genau hier war was?«
»Der Gulliverfisch.«
Jonas fragte noch einmal nach, weil er glaubte, das Französische nicht richtig verstanden zu haben, doch die Antwort blieb die gleiche.
»Was meinen Sie damit?«
»Ich bin siebenundsiebzig Jahre alt, und zum ersten Mal habe ich von ihm mit dreizehn gehört. Ein Monster. Ein großer Fisch, der Menschen angreift und verschluckt, Menschen, die am Ufer stehen.«
»Hört sich nach einem springenden Hai an.«
»Als ich erwachsen war, fand ich die Geschichte auch komisch, aber als Kind ängstigt man sich vor so etwas. Dieser Fisch, so wurde erzählt, verschluckt seine Opfer im Ganzen, ohne sie zu zerreißen, ungefähr so wie eine Schlange, und dann passiert etwas noch Unheimlicheres: Er verändert Farbe und Form. Vorher ist er schwarz, danach wird er grau. Er wird immer länger und länger, er ringelt
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