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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Jonas und Marc eine Paella vor, zu der es bitteren Kornschnaps gab. Kaum hatten sie zu essen begonnen, wurde vor dem Zelt Geschrei laut.
    »Das ist sicher wieder wegen der Sherpas, das geht schon den ganzen Tag so«, vermutete Paco, der auch mit dem Löffel in der Hand nicht aufhörte zu rauchen. »Bekannte von Oscar, unserem Teamchef, haben Probleme mit ihren Trägern.«
    »Mitglieder eures Teams?« fragte Marc. »Was für Probleme?«
    »Sie gehören nicht zu uns, sie sind bloß mit Oscar befreundet. Die beiden wollten ohne Anschluss an ein größeres Team auf den Everest, weil sie nicht so viel Geld hatten, um sich einzukaufen. Sie hatten sich nur zwei Sherpas gemietet, und die wollen nun plötzlich mehr Geld.«
    »Und wieso?«
    »Offenbar aus fadenscheinigen Gründen. Sie wollen weitere 5000 Dollar pro Kopf, sonst lassen sie sich von jemand anderem anwerben. Interessierte gibt es genug.«
    »Kommt so was öfter vor?« fragte Jonas.
    »Gierige Menschen gibt es überall«, sagte Marc ausweichend. »Paco, geht euer Team morgen durch den Khumbu?«
    »Zwei wollen gleich ganz hinauf, ich werde wohl meinen Wimpel los. Dieses Warten geht ja selbst mir auf die Nerven, obwohl ich nur indirekt betroffen bin. Um kein Geld der Welt würde ich einen Fuß in diesen Eisbruch setzen.«
    »Und wenn du vor die Wahl gestellt würdest, nie wieder rauchen oder da hochzulaufen?«
    »Pah! Terrorist! Bevor ich nie wieder rauche, steige ich barfuß auf den Gipfel, was denkt ihr denn!«
    »Ich kann mich noch daran erinnern, wie lange wir am Erebus festgesessen sind«, warf Jonas ein. »War nicht gerade lustig.«
    »Das Warten macht allen zu schaffen«, sagte Marc. »Am Anfang meiner Karriere gab es für mich nichts Schlimmeres. Nichts war so aufreibend wie diese blöde Warterei. Du liegst wochenlang auf so einem Berg rum und hast nichts anderes vor der Nase als das Gesicht deines Gefährten, hörst nichts anderes als seine Musik, seine schlechten Witze und sein Gurgeln beim Zähneputzen, du riechst seinen Achselschweiß, seine nassen Socken und noch so allerhand, und du fragst dich, warum zum Teufel du dir das antust. Die Leute brauchen sich nicht zu beklagen, hier gibt es wenigstens Bars und Bier.«
    »Und Tote«, sagte ein großer schlanker Mann mit Baskenmütze, der gerade das Zelt betreten hatte.
    »Was? Wer ist tot?«
    »Ein Trekker. Ein Europäer, glaube ich. Kurz vor dem Basislager. Höhenkrankheit, wie es aussieht. Seiner Freundin geht es auch ziemlich schlecht, die bringen sie gerade nach Pheriche. Die beiden waren schon ein paar von meinen Sherpas aufgefallen, die mit Nachschub unterwegs ins Basislager waren. Sie haben gesagt, die zwei seien wie in Trance weitergetorkelt und durch nichts zur Umkehr zu bewegen gewesen. Solche Leute marschieren direkt in den Tod, und du kannst nichts daran ändern. Es ist furchtbar.«
    Der Mann mit der Baskenmütze stellte sich Jonas als Oscar vor, er war der Expeditionsleiter der Argentinier.
    »Über dich habe ich viel gehört«, sagte Oscar. »In wie vielen Ländern warst du?«
    »Ich habe sie nicht gezählt«, sagte Jonas mit einem vorwurfsvollen Seitenblick auf Marc.
    »Fünfzig? Sechzig? Wie viele ungefähr? Ich will wissen, ob ich gewinne.«
    »Ich weiß es wirklich nicht. In weit über hundert jedenfalls.«
    »Was, so viele gibt es?«
    »Ja, man wundert sich manchmal, was es alles gibt.«
    »Und stimmt es, dass dir eine eigene Insel gehört, auf der du aus gigantischen Boxen Musik hörst?«
    Jonas warf Marc einen wütenden Blick zu. Marc machte eine verstohlene Geste, die Schuldbewusstsein ausdrücken sollte, und zupfte Oscar am Ärmel.
    »Dir kann man aber auch alles erzählen. Das war doch bloß ein Scherz.«
    »Wie ein Scherz hat das nicht geklungen. Ist eine gute Geschichte, ich will sie hören!«
    »Glaub mir, es war ein Scherz. Sag, wollt ihr morgen schon durch den Eisfall gehen?«
    Halblaut bedankte sich Jonas bei Paco für die Einladung, packte seine Jacke und machte, dass er wegkam.
    Er schleppte sich zu seinem Zelt. Ohne sich die Zähne geputzt oder wenigstens das Gesicht gewaschen zu haben, schlüpfte er in seinen Schlafsack. Das Licht drehte er ab, damit niemand auf die Idee kam, sich die Zeit ausgerechnet mit ihm vertreiben zu wollen.
     
    Er starrte lange in die Dunkelheit.
    Man wird älter und älter, und man wartet. Etwas wird passieren, etwas Großes. Das Leben, das man führt, steuert zweifellos auf einen Höhepunkt zu, hinter dem die Versöhnung liegt, die Läuterung, das

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