Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
Vom Netzwerk:
ihn ganz ruhig machte. Dieser Blick gehörte ihm für immer.
    »Du bist ja völlig verrückt!« war das erste, was er hörte, als er wieder zu Bewusstsein kam.
    »Wieso? Was ist passiert?«
    »Du bist achtundzwanzig Meter in die Tiefe gesprungen, ohne die leiseste Ahnung zu haben, wie man das macht! Wenn ich dich nicht rausgezogen hätte, wärst du ertrunken. Du musst ins Krankenhaus, du warst kurz bewusstlos, du hast vielleicht eine Gehirnerschütterung.«
    »Das ist bei mir ein Dauerzustand.«
    »Das habe ich gerade gemerkt! Was ist denn da in dich gefahren?«
    »Ich will wissen, was für ein Tattoo das ist.«
    »Nur deswegen bringst du dich beinahe um?«
    »Unsinn, ich wollte mich nicht umbringen, ich habe bloß etwas ausprobiert. Und jetzt will ich deinen Namen wissen. Was du hier tust, und ob – aua! – du vielleicht Ärztin bist, ich habe mir nämlich eine oder zwei Rippen gebrochen, und Krankenhäuser betrete ich nicht.«
    »Nicht einmal, wenn deine Oma an der Hüfte operiert wird? Wieso denn, wenn ich fragen darf?«
    »Du wolltest mir etwas über dein Tattoo erzählen.«
    Sie sah ihn lange an. Dann lachte sie.
    »Ich heiße Marie, und ich bin wegen der Sonnenfinsternis hier. Das Tattoo habe ich mir in einem sensiblen Alter stechen lassen, in der naiven Hoffnung, eines Tages einen Menschen zu treffen, dem ich erlauben kann – den ich bitten kann –, dasselbe Motiv auf seinem Körper zu tragen. Es ist ein sehr altes Symbol, und ich habe davon noch nie jemandem erzählt. Aber du mit deinem idiotischen Sprung …«
    »Du sagtest, ich soll!«
    »Das war doch nicht ernst gemeint! Ich konnte ja nicht wissen, dass du dich umbringen willst.«
    »Ich bin weit davon entfernt, mich umbringen zu wollen. Ich will leben, leben, leben.«
    Wieder musterte sie ihn schweigend.
    »So. Willst du das?«
    »Ja. Das will ich.«
    »Dann komm mal mit.«
    Er war mitgekommen.
     
    Kopfschüttelnd zerriss Jonas die Zeichnung. Rasch fertigte er eine neue an, das Bild eines Segelbootes, das über einen Wellenkamm ragte, und eine zweite von einer Schildkröte, die ein Buch fraß. Er wusste schon jetzt, dass Sarah das Segelboot nehmen würde.
    Es begann wieder zu schneien.

28
     
    Im Sommer fuhren sie mit dem Bus nach Frankreich. Es war ihre erste Reise ohne Begleitung. Zach hatte sie losgeschickt. »Das ist das, was man in eurem Alter machen muss.«
    Durch Veras Erzählungen war er auf einiges vorbereitet gewesen, doch mit solchen Wellen wie hier in Hossegor hatte er nicht gerechnet. Richtige Ungetüme, an die zehn Meter hoch, wutschäumend und von glitzernder Schönheit, wie er sie nie zuvor gesehen hatte, auch nicht im Fernsehen. Den ganzen ersten Tag verbrachte er damit, auf einer Klippe zu liegen und auf die heranrollenden Brecher zu starren, während hinter ihm Vera und Werner auf der Terrasse ihres Bungalows Rotwein tranken und französische Popsongs hörten.
     
    »Heute lernst du surfen«, ertönte es von der anderen Seite des Bettes, als Jonas am nächsten Morgen die Augen aufschlug.
    »Da draußen? Ich bin ja nicht wahnsinnig!«
    »Natürlich nicht ganz draußen. Wir üben da, wo die Wellen kindersicher sind. Außerdem musst du zuvor sowieso noch eine andere Lektion lernen.«
    »Sehr gern«, sagte er und fasste nach ihr, doch sie sprang aus dem Bett und zog ihm die Decke weg.
    »Nicht so eine Lektion, das hättest du wohl gern! Raus da! Auf! Um diese Zeit ist das Meer relativ ruhig, später müssten wir mehrere Kilometer laufen, und das willst du bestimmt nicht. Los, putz dir die Zähne. Wir treffen uns unten.«
    Sie legte ihren Bikini an, setzte ihren Sonnenhut auf, packte ihre Strandtasche und war weg.
    »Na viel Spaß«, sagte Werner, der gleich darauf, ein Badetuch um die Hüften gewickelt, in der Tür zu ihrem Schlafzimmer stand. »Ich lege mich noch mal hin und lasse mir später am Pool einen Cocktail mixen.«
    »Für Cocktails bist du zu jung.«
    »Weiß ich.«
    »Kannst du nicht statt mir gehen?«
    »Du wolltest sie, jetzt hast du sie.« Werner klopfte ihm auf die Schulter. »Gibt ja auch Schlimmeres.«
    »Allerdings.«
    »Was ist? Lass deinem Zögern Worte folgen. Ich sehe ja, dass du etwas fragen willst.«
    »Ach, es ist nichts.«
    »Doch, es ist etwas. Sag schon!«
    »Als ihr zwei zusammen wart, hast du daran gedacht, ihr die Burg zu zeigen?«
    Werner sah ihn verwundert an.
    »Keine Sekunde.«
    »Wieso nicht?«
    »Das wäre gegen die Regeln. Wie kommst du darauf?«
    »Weil der Boss damals sagte, die Frau, die wir

Weitere Kostenlose Bücher