Das größere Wunder: Roman
sich sozusagen um sich selbst, im Kreis, sodass er am Ende aussieht wie ein rundes Schwimmbecken.«
»Der Fisch verwandelt sich in einen Swimmingpool?«
»Er liegt dann tagelang am Strand und verdaut. Ein hässliches graues Wesen, das genau zu wissen scheint, welche Stellen so abgelegen sind, dass es tagelang gefahrlos am Ufer verweilen kann.«
»Und woher kommt der Name für dieses Ungeheuer? Nessie hat man ja auch nach Loch Ness benannt, in dem es sein Unwesen treibt, aber Gulliverfisch kann ich nicht deuten.«
»Woher der Name stammt, weiß ich nicht. Aber im Unterschied zu Nessie gibt es den Gulliverfisch wirklich. Ich habe ihn gesehen. Da, wo du vorhin standest.«
»Sie meinen, Sie haben dort ein graues Schwimmbecken gesehen, das dabei war, einen Menschen zu verdauen? Wann war denn das?«
»Ja, ich bin Spott gewöhnt. Es war der 16. Juni 1972. Und seither bin ich jeden Tag hiergewesen.«
»Warum? Wollen Sie den Fisch töten? Ich sehe keine Waffe.«
»Das würde ich nie wagen. Ich will ihn bloß noch einmal sehen. Es gibt mehr als einen. Wie viele genau, weiß ich nicht. Es ist jedenfalls eine eigene Art.«
Jonas lenkte die Unterhaltung auf die örtliche Landschaft und das Wetter der kommenden Tage, bedankte sich für das Gespräch und die Gelegenheit, sein Französisch zu üben, und kehrte zu seinem Platz zurück, wo Vera sich die Haare trockenrieb.
»Habt ihr euch gut unterhalten?« fragte sie.
»Warte nur, bis dich der Gulliverfisch holt.«
In dieser Nacht träumte Jonas von Wellen.
Er war mit Vera irgendwo in Italien. Das Hotel, in dem sie abgestiegen waren, lag am Strand, und aus unerfindlichen Gründen rollten ständig Wellen heran, die sich bis zur Terrasse des Hotels wälzten, was den Gästen dort sehr gefiel. Es wurde gelacht und gejohlt, und manche ließen sich vom Wasser bis zur Rezeption spülen, ohne sich darum zu kümmern, dass ihre Kleider, ihre Handtaschen, ja all ihre Habseligkeiten nass wurden.
Später kamen höhere Wellen. Die Leute lachten weniger. Jonas schien als einziger von Anfang an begriffen zu haben, dass etwas nicht in Ordnung war. Völlig durchnässt warf er einen Blick nach draußen, und mit Entsetzen sah er eine zehn Meter hohe Welle, die vor ihm aufragte. Er konnte sich rechtzeitig hinter einer Säule in Sicherheit bringen, dann krachte die Welle in das Hotel. Glas splitterte, Menschen schrien. In der Lobby stieg das Wasser schnell, doch als es Jonas bis zum Hals stand, zog es sich wieder zurück.
Nun brach Panik aus, die sich noch steigerte, weil auf diese Riesenwelle gleich die nächste folgte, die nächste und noch eine. Dann wurde es still.
Das Meer schien sich beruhigt zu haben. Die Menschen atmeten auf. Die Gespräche gewannen wieder an Leichtigkeit, bis es plötzlich finster wurde. Etwas sehr, sehr Großes musste die Sonne verdunkeln.
Die Welle der Wellen fiel auf das Hotel.
Als Jonas aus dem Traum hochschrak, erinnerte er sich, dass er diesen Traum schon oft geträumt hatte. Dutzende Male. Hunderte Male. Wellen, so gigantisch, dass sie nicht auf natürliche Weise entstanden sein konnten, es musste sie jemand geschickt haben.
In der zweiten Woche begann der Surfkurs. Werner blieb lieber in der Nähe einer Strandbar, wo eine Kellnerin arbeitete, die mindestens fünf Jahre älter war als er, und die eine große Anziehung auf ihn ausübte, und so wurde nur Jonas im weniger stürmischen Wasser der benachbarten Bucht von Vera unterrichtet. Am ersten Tag fiel er so oft vom Brett, dass er irgendwann der Verzweiflung nahe war, doch ans Aufgeben dachte er nie. Am dritten Tag wurde es besser, und am fünften Tag schien sich wie aus dem Nichts alles verändert zu haben. Er stand sicher auf dem Brett und ritt die Wellen zu Ende.
»Der allerbeste Surfer wirst du nicht werden«, sagte Vera, »aber definitiv auch nicht der schlechteste. Bist du bereit?«
»Bereit wofür?«
»Höhere Wellen.«
»Okay. Gleich morgen früh.«
Sie trugen ihre Surfbretter den schmalen Weg zum Bungalow hoch. Auf der Terrasse erwartete sie ein festlich gedeckter Tisch. Aus den Boxen am Fenster drang sanfte Musik, und im Weinkühler stand eine Flasche Chardonnay.
»Nicht schlecht«, sagte Jonas mit einem Blick auf das Etikett. »Für unser Alter trinken wir zuviel.«
»Aber wir sind doch in den Ferien.«
»Was soll denn das werden?« fragte Vera.
»Ich entdecke meine feminine Seite«, antwortete Werner und brachte zwei Gaslaternen, die er auf die Steinmauern des Gemüsegartens
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