Das größere Wunder: Roman
lieben, dürfen wir mitnehmen.«
»Ach so!« Werner nahm eine Banane aus dem Obstkorb auf der Kommode und dachte kurz nach. »Nein, das wäre für mich nie in Frage gekommen.«
»Aus welchem Grund?«
»Aus welchem Grund? Weil sie das nicht gewesen ist. Ganz einfach.«
»So einfach ist das?«
»Ich habe ihn so verstanden, dass man nicht jede Frau, mit der man zusammen ist oder in die man verliebt ist, zur Burg bringen darf, sondern nur die eine. Falls es so eine gibt, aber das ist ein anderes Thema. Mensch, ich bin sechzehn, meine erste wird doch nicht die letzte oder größte Liebe sein!«
»Das hört sich ganz schön abgeklärt an.«
»Müssen wir sowas schon vor dem Frühstück besprechen?« Werner gähnte absichtlich laut. »Soll ich dir auch ein paar Eier aufschlagen? Magst du Toast? Ach richtig, du hast ja leider keine Zeit.«
»Sehr witzig. Wer weiß, was die mit mir vorhat. Ich will hier nicht –«
Absaufen, hatte er sagen wollen, doch er brachte den Satz nicht zu Ende. Er spürte Tränen aufsteigen, von denen er nicht wusste, wie er sie zurückdrängen sollte. Werner zog ihn an sich und umarmte ihn.
Schon als kleines Kind hatte Jonas über das Sterben nachgedacht, darüber, was es war und was es bedeutete, ob danach alles aus war oder ob es weiterging, ob man einen toten Vater wiedersah oder ob er weg war, ob Sterben schmerzhaft oder gar schön war, ob es gefürchtet oder herbeigesehnt werden sollte.
Was für ein Geräusch hörte man, wenn man starb? In der letzten Sekunde, wie klang es, und sollte es nicht einen Namen haben? Er hatte diesem Geräusch einen Namen gegeben: Hatta. Hatta war es, was ein Sterbender zuletzt hörte.
Der Tod brachte das Hatta und war ein kaltes weißes Gesicht in der Nacht. Er war hart, und er war auf rätselhafte Weise das Alter achtzig. Daraus hatte Jonas geschlossen, dass dies eine Botschaft nur für ihn war und er selbst mit achtzig sterben würde. Früher war ihm dieser Tag unendlich fern erschienen. Nun, einige Jahre später, war der Tod ständig in seinen Gedanken, er war vertraut geworden. Sein Vater wohnte dort. Sein Bruder wohnte dort. Sie waren im Tod. Sie waren woanders, aber sie waren.
Lieber Gott, lass es ihnen gutgehen, lass sie glücklich sein.
Vera wartete auf ihn am Strand, den sie an dieser Stelle fast für sich allein hatten. Ein einsamer Alter stand auf einem Felsen, sonst war niemand zu sehen. Jonas’ Vorschlag, erst einmal ein ausgedehntes Frühstück in Erwägung zu ziehen, ignorierte sie.
»Hör gut zu, das ist wichtig. Wenn du surfen lernen willst, musst du die Wellen verstehen. Keine ist wie die andere, jede hat einen eigenen Charakter, und du musst beim Surfen in der Lage sein, diesen Charakter blitzschnell zu erfassen, sonst fliegst du ratzfatz vom Brett. Und weil das gerade am Anfang besonders schwierig ist, wirst du dich jetzt hier ins Meer knien.«
»Ich werde bitte was?«
»Mindestens eine Stunde lang. Zwei wären besser.«
»Soll ich Poseidon die Ehre erweisen? Hinknien, was ist denn das für ein überspannter Quatsch?«
»Mensch, das soll keine religiöse Geste sein, es geht darum, dass du auf diese Weise die Wucht der Welle besser spürst. Wenn du stehst, hebt sie dich mit, oder du tauchst weg, jedenfalls bist du ihr nicht so ausgesetzt und bekommst kein Gefühl für sie. Du kniest dich so hin, dass dein Kopf gerade noch aus dem Wasser guckt. Vorzugsweise da, wo die Wellen brechen.«
»Du willst, dass ich im Wasser sitze und mich eine Stunde von den Wellen prügeln lasse, statt da oben in der Sonne Kaffee zu trinken und frische Croissants zu essen, habe ich das richtig verstanden?«
»Zwei Stunden wären besser.«
»Ich bin ja nicht total bescheuert!«
»Aber du liebst mich, und du willst surfen lernen, also los!«
Jonas war sich nicht sicher, ob er surfen lernen wollte, doch in der Hitze lockte ihn das Wasser ohnehin, und vielleicht machte die ganze Sache ja sogar Spaß.
Es machte Spaß. Sehr sogar. Bei manchen Wellen, die auf ihn zudonnerten und sich im letzten Moment noch einmal vor ihm aufbäumten, fühlte er eine erhabene Angst. Welle um Welle stürzte über ihn, begrub ihn, warf ihn um, spuckte ihn auf den rauhen Ufersand, schleifte ihn über spitze Muscheln und Steine, doch er fühlte ein von Minute zu Minute wachsendes Glück.
Er hatte keine Ahnung, was da mit ihm geschah. Er wusste nur, dass er sich dem Meer, ja den Elementen überhaupt nie so verbunden gefühlt hatte. Er war Teil dessen, was um ihn
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