Das größere Wunder: Roman
Glück – unausweichlich und unabänderlich. Eines Tages wird alles gut. Das Heute ist fehlerhaft, das Morgen wird vollkommen sein.
Man wird älter und älter und wartet noch immer. Kämpft noch immer, mit der Welt und mit sich selbst, und das Erhabene, es will nicht kommen. Die Versöhnung mit sich und mit der Welt lässt auf sich warten, das Glück ist nicht perfekt, die Besserung nicht in Sicht. Mitunter scheint alles gar unmerklich abwärts zu gehen.
Man wartet weiter.
Und fühlt eine dumpfe Sorge aufsteigen.
Sorge wird zu Angst, Angst wächst zu Entsetzen, Entsetzen schlägt um in Trauer, Trauer verwandelt sich in Unglaube.
30
Zach holte ihn am Busbahnhof ab.
Jonas hatte Vera nicht gesagt, weshalb er zurück musste, sie hatten gestritten, er hatte sie zum Bleiben gedrängt.
»Werner ist ja hier, und Anouk ist nicht nur nett, sondern kennt auch interessante Leute aus der Gegend. Langweilig wird dir bestimmt nicht.«
»Hast du Geheimnisse vor mir? Ich mag es nicht, wenn du Geheimnisse vor mir hast.«
»Ich habe sogar Geheimnisse vor mir selbst.«
»Und dann immer diese oberschlauen Antworten! Kommst du wieder? Wir haben den Bungalow noch für drei Wochen!«
»Ja. Vielleicht, ja.«
Er wusste es wirklich nicht. Er wusste nicht, was ihn erwartete, er verbrachte die lange Fahrt im schaukelnden, streng riechenden Bus schlaflos und grübelnd. Die Entscheidungen, die womöglich vor ihm lagen, ließen ihm keine Ruhe.
»Hervorragend siehst du aus«, sagte Zach. »Eine Spur zu rot vielleicht.«
»Meinem Gefühl nach müsste mein Gesicht eher grün sein.«
»Das ist es allerdings auch, ehrlich gesagt. Eben, du siehst großartig aus, wie ein Apfel, halb grün, halb rot.«
»Also?«
»Also was?«
»Wer ist es?«
»Hackl.«
Jonas warf sein Gepäck auf den Rücksitz und stieg ein. Zach gab Gas, bremste scharf, ließ eine Frau mit Kinderwagen die Straße überqueren, gab wieder Gas. Jonas kaute an seiner Unterlippe, bis er Blut schmeckte.
»Bist du ganz sicher?«
»Es gibt keinen Zweifel. Er hat diese dumme Pistole zwei Tage zuvor gekauft, unglücklicherweise nicht hier im Ort, sonst wäre ich ihm schon früher auf die Schliche gekommen. Zudem hat die alte Frau, die am Waldrand wohnt, ihn an dem Tag mit einer Waffe auf eine Scheibe schießen sehen. So. Was willst du jetzt tun?«
Jonas gab keine Antwort.
Zu Hause ging er auf sein Zimmer, ohne jemanden zu begrüßen. Eine Stunde versank er in dunklem, taubem Schlaf, aus dem er durch eine Berührung gerissen wurde, deren Herkunft er nicht erklären konnte. Er wischte sich über die verschwitzte Stirn, betrachtete verwirrt das Zimmer, das er seit acht Jahren bewohnte.
Er ging hinüber ins Nachbarzimmer und setzte sich auf Mikes Bett. Alles sah noch genauso aus wie früher, nichts von seinen Sachen war weggekommen.
Im ganzen Haus war es still. Die Fenster waren geschlossen, auch von draußen drang kein Laut. Die Mittagssonne spiegelte sich im Bildschirm des Fernsehers, in dem Mike so gern Zeichentrickfilme gesehen hatte. In der Ecke lag sein schmutziger Tennisball, in einer Vitrine stand der Pokal, den ihm Jonas einmal für schnelles Laufen überreicht hatte, er hatte ihn in tagelanger Arbeit selbst gebastelt.
Hackl. Der brutale Kerl. Der Postbote, der seine Kinder mit Striemen an den Beinen zur Schule schickte und senilen alten Leuten die Rente unterschlug. Der Tauben vergiftete und seiner Frau angeblich das Essen über den Kopf goß, wenn es ihm nicht schmeckte.
Und Mike.
Jonas machte sich auf die Suche nach Zach. Er fand ihn vor der Garage.
»Was machst du hier?«
»Ich hatte so ein Gefühl, du möchtest irgendwo hingebracht werden.«
»Wo ist der Boss?«
»Beim Arzt. Den kriegst du nicht vor Abend zu Gesicht.«
»Wie geht es ihm denn?«
Zach zuckte mit den Schultern. »Du kennst ihn ja. Besonders gesprächig ist er bei dem Thema nicht.«
Jonas überlegte.
»Bring mich hoch zur Burg.«
Zach nickte. »Soll ich warten oder wiederkommen?«
»Lass mich zwei Stunden allein dort, das genügt mir schon.«
Während der Fahrt sprachen sie kein Wort.
Zach setzte Jonas an dem rostigen Tor ab, das zum Garten jenes Anwesens führte, von dem Jonas wusste, er würde es eines Tages einer Frau zeigen, einer bestimmten Frau, die er womöglich noch nicht kannte und von der er zu gern gewusst hätte, was sie in diesem Augenblick tat, während er über den steinigen Weg zum Haustor trottete, das Brummen des abfahrenden Autos in den Ohren.
Wie alt war
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