Das große Buch der Lebenskunst
C. G. Jung beobachtet, dass es die gleichen Menschen sind, die in der Jugend Angst haben vor dem Leben und im Alter Angst vor dem Tod. Er
schreibt: »Ich habe die Erfahrung gemacht, dass gerade jene jungen Leute, welche das Leben fürchten, später ebenso sehr an Todesangst leiden. Sind sie
jung, so sagt man, sie hätten infantile Widerstände gegen die normalen Forderungen des Lebens. Sind sie alt, so müsste man eigentlich dasselbe sagen,
nämlich, dass sie ebenfalls Angst vor einer normalen Forderung des Lebens haben.«
Religion ist für Jung vor allem eine Schule für die zweite Lebenshälfte und ein System »der Vorbereitung des Todes«. Und er meint, dass es der
menschlichen Seele entsprechen würde, im Tod die Sinnerfüllung des Lebens zu sehen. Wer sich von dieser Grundtatsache seiner Seele trennt, »hat sich
psychologisch isoliert und steht im Gegensatz zu seinem eigenen allgemeinmenschlichen Wesen«. Und Jung meint, dass diese Trennung von der Wahrheit der
eigenen Seele die Ursache aller Neurosen ist. Der Mensch bleibt nur gesund, wenn er sich der Wahrheit seines Lebens und seiner Seele stellt. Wer sich
gegen seine Seele stellt, gerät in einen Zwiespalt, der krank macht. »Denn«, so meint Jung, »es ist ebenso neurotisch, sich nicht auf den Tod als ein Ziel
einzustellen, wie in der Jugend die Phantasien zu verdrängen, welche sich mit der Zukunft beschäftigen.« Jung sieht in der Rastlosigkeit vieler Alter ein
Zeichen der neurotischen Flucht vor der eigenen Wahrheit. Rastlosigkeit aber erzeugt immer Sinnlosigkeit. In der Rastlosigkeit flieht man vor der
Sinnlosigkeit des Lebens. Überwinden kann man sie nur, wenn man sich dem eigenen Tod stellt.
Ars moriendi
S ich den Tod vor Augen halten befreit von der Angst. So wurde ein Altvater einmal gefragt, warum er nie
Angst habe. Und er antwortete, weil er sich täglich den Tod vor Augen halte. Die Einübung ins Sterben ist wohl die entscheidendste geistliche Aufgabe des
Alters. Es gibt heute viele Bücher, die von Nahtodeserlebnissen berichten. Menschen, die bereits klinisch tot waren, erzählen ihre Erfahrungen. Sie
stimmen darin überein, dass sie keine Angst mehr vor dem Tod haben und dass sie nun viel bewusster und intensiver leben. Sie spüren, was es für ein
Geheimnis ist, zu leben. Sie erfahren jeden Tag neu das Geschenk des Lebens. So bekommt ihr Leben eine andere Qualität. Angesichts des Todes zu leben
könnte uns eine neue Lebensqualität schenken, eine neue Wachsamkeit und Achtsamkeit des Herzens.
Heute haben die Menschen aber nicht nur vor dem Tod Angst und vor dem, was nach dem Tod geschieht, sondern noch viel mehr vor dem Zustand der
Hilflosigkeit und Pflegebedürftigkeit. Es geht gegen unsere innere Ehre, wenn wir ständig auf die Hilfe anderer angewiesen sind, wenn wir im Geist
verwirrt sind und nicht mehr für voll genommen werden. Ich stelle mir immer wieder einmal vor, wie das denn bei mir wäre, wenn ich verwirrt wäre, nur noch
ein Pflegefall, wenn meine Intelligenz weg wäre, wenn ich nicht mehr denken, schreiben, sprechen könnte. Es fällt mir nicht ganz leicht, das
auszudenken. Aber wenn ich mich frage: Was trägt dich dann, was macht deinen Wert aus? Dann spüre ich: Es gibt in mir eine unantastbare Würde, die mir
niemand nehmen kann, auch die Krankheit nicht, auch nicht das Verwirrtsein. Die Krankheit wäre dann wirklich Einübung in das Vertrauen. Ich kann nichts
mehr festhalten, alles muss ich loslassen, auch noch meinen Verstand. Ich kann mich nur nochin Seine Hände fallen lassen und vertrauen,
dass es so gut ist. Eine Tante von mir, die als Lehrerin ins Kloster eingetreten ist und immer sehr viel geredet hat, konnte die letzten fünf Jahre kein
Wort mehr sprechen. Man spürte, wie sie sich immer mehr zurücknahm, wie sie gerade das ihr kostbare Sprechen loslassen musste, um in eine tiefere
Dimension zu gelangen. Im Schweigen wurde ihr Gesicht auf einmal leuchtender und durchsichtiger.
Annehmen und loslassen
D as Leiden ist ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Lebens. Wir können ihm nicht
ausweichen. Unser Leben gelingt nur, wenn wir einen Weg finden, das unausweichliche Leiden zu tragen. Darauf hat C. G. Jung hingewiesen: Wer dem Leiden
ausweicht, wird oft genug neurotisch. Neurose nennt Jung den Ersatz für das notwendige Leiden an der menschlichen Existenz. Wer seine Begrenztheit nicht
annimmt, wer seine Krankheit, sein ihm auferlegtes Leid nicht
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