Das große Buch der Lebenskunst
das entstehen würde, wenn ich nichts zu tun hätte. Ich
laufe vor mir selbst davon. Ich kann mich selbst nicht aushalten. Ich kann es nicht ertragen, wenn ich in der Stille mir selbst und meiner Wahrheit
begegnen würde. Oder ich sehne mich nach Anerkennung. Deshalb leiste ich immer mehr, damit man mich nicht übersehen kann. Ich sehne mich nach Beziehung,
um mich spüren zu können, um zu erfahren, dass ich liebenswert bin. Ich möchtebedingungslos angenommen sein, mich selbst annehmen und
lieben können.
Es geht darum, meine Süchte zu Ende zu denken. Wenn ich die gehobene Stimmung durch den Alkohol bekomme, ist das schon alles? Oder sehne ich mich nicht
nach mehr? Sehne ich mich nicht nach einer ganz anderen Wirklichkeit, nach der Wirklichkeit des Geistes?
In Berühung mit mir selbst
I n den Exerzitien frage ich mich selbst und auch die Exerzitanten immer wieder: »Was ist deine tiefste
Sehnsucht?« Ich kann diese Frage nicht immer sofort beantworten. Aber wenn ich mich dieser Frage stelle, dann fällt alles krampfhafte Suchen, mich selbst
besser zu machen, weg. Vieles, was mir sonst Kopfzerbrechen bereitet, wird unwichtig. Ich komme in Berührung mit mir selbst, mit meinem Herzen, mit meiner
eigenen Berufung. Wer bin ich eigentlich? Was ist meine Sendung? Welche Spur möchte ich eingraben in diese Welt? Was erfüllt mir meine Sehnsucht? Die
Frage nach meiner tiefsten Sehnsucht führt mich letztlich nicht nur zu Gott, sondern auch zu meiner urpersönlichsten Antwort auf Gottes Sehnsucht nach
mir. Auch Gott sehnt sich nach mir, so sagen uns die Mystiker. Mechthild von Magdeburg spricht Gott an: »O du brennender Gott in deiner Sehnsucht!« Gott
sehnt sich danach, den Menschen zu lieben. Wenn ich mich nach meiner tiefsten Sehnsucht frage, dann entdecke ich, wie ich auf seine Sehnsucht nach mir,
wie ich auf seine Liebe zu mir antworten möchte.
Meine tiefste Sehnsucht besteht darin, ganz und gar durchlässig zu werden für seine Liebe und Güte, für seine Barmherzigkeit und Milde, ohne
Verfälschungen durch meinen Egoismus, ohne Verdunkelungen durch meine eigenen Bedürfnisse nach Anerkennung und Erfolg. Lauterkeit, Reinheit des Herzens,
– so haben das die frühen Mönche genannt.
Nichts festhalten
T r au deiner Sehnsucht – und dein Herz wird weit. Deine Sehnsucht führt dich über dein eigenes
begrenztes Ego hinaus und relativiert die Probleme, mit denen du dich herumschlägst. Die Sehnsucht befreit dich vom Zwang, alles Schöne und Erfreuliche
festhalten zu müssen. Du kannst dich daran freuen und es wieder lassen. Die Sehnsucht macht dich fähig, mitten in den Konflikten des Lebens gelassen zu
bleiben. Was deine Erwartungen nicht erfüllt, vermag deine Sehnsucht zu vertiefen. So reagierst du nicht mit Frustration und Traurigkeit, sondern mit
innerer Freiheit und Zuversicht. Alles, was dir querläuft, kann dem, der seiner Sehnsucht traut, seine Liebe und Liebenswürdigkeit nicht rauben, sondern
wird sie nur stärken und vertiefen. Trau deiner Sehnsucht – und in ihr wirst du heitere Gelassenheit erfahren.
Sucht in Sehnsucht verwandeln
D ie Sucht braucht immer zwei Strategien: die eine Strategie ist die konsequente Befolgung klarer Regeln;
die andere Strategie geht der Sucht auf den Grund. Was entdecke ich in mir, wenn ich in meine Sucht hineingehe, wenn ich sie zu Ende denke, wenn ich mich
frage, was sie mir eigentlich bringen sollte? Ich werde dann auf dem Grund meiner Sucht eine tiefe Sehnsucht entdecken. Und die Sucht wird nicht wirklich
geheilt, solange ich nicht auf gesunde Weise mit meiner Sehnsucht in Berührung komme. Die Sehnsucht ist nicht eine fromme Flucht vor der Wirklichkeit
meiner Sucht, sondern ein Wandlungsweg für die Sucht. Dieser Wandlungsweg gelingt aber nur, wenn ich der Sucht etwas entgegensetze. Wasserkraft wird erst
dann in Strom verwandelt, wenn ich einen Staudamm errichte, damit die Energie in eine andere Richtung fließen kann.
Ernesto Cardenal beginnt sein berühmtes Buch von der Liebe mit dem Satz: »In den Augen aller Menschen wohnt eine unstillbare Sehnsucht. In den Pupillen
der Menschen aller Rassen, in den Blicken der Kinder und Greise, der Mütter und liebenden Frauen, in den Augen des Polizisten und des Angestellten, des
Abenteurers und des Mörders, des Revolutionärs und des Diktators und in denen des Heiligen: in allen wohnt der gleiche Funke unstillbaren Verlangens, das
gleiche heimliche Feuer, der gleiche
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