Das große Buch der Lebenskunst
spiritueller. Wenn wir im Vaterunser beten: »Dein
Reiche komme zu uns«, so brauchen wir nicht – sagt Augustinus – Gott anzuflehen, dass er endlich sein Reich kommen lasse, sondern wir stacheln in uns
die Sehnsucht nach diesem Reich an. Die Psalmen sind für Augustinus Lieder der Sehnsucht. Indem wir sie singen, wächst in uns die Sehnsucht nach der
wahren Heimat in Gott. Augustinus vergleicht das Psalmensingen mit dem Singen von Wanderern. Zur Zeit des Augustinus wanderte man bei Nacht, um der
Gefährdung durch Räuber zu entgehen. Aber dafür stieg häufig Angst in den Wanderern hoch. Um sich die Angst zu vertreiben, sangen die Wanderer ihre
Heimatlieder. Augustinus zieht diesen Vergleich: So singen wir also hier in der Fremde, die Liebeslieder unseres Vaterlandes, um in uns die Angst vor der
Dunkelheit zu überwinden und die Sehnsucht nach Gott anzustacheln.
Die höchste Form des Betens ist für Augustinus das Singen. Er hat eine eigene Theologie über das Singen entfaltet. »Cantare amantis est – singen ist
Sache des Liebenden«. Singen kann nur, wer liebt. Das Singen führt den Menschen nach innen, in das »Intimum domus meae – in das Innerste meines
Hauses«. Wenn du der Musik zuhörst, kommt der Klang der Geigen und Celli von außen auf dich zu. Aber das Singen führt dich in den inneren Raum, in dem du
dich berührt fühlst, in dem du bei dir daheim, ganz und heil bist. Wenn du in diesem inneren Raum bei dirselbst angekommen und in
diesem inneren Raum daheim bist, dann wird eine Sucht unnötig, die die Heimat des Paradieses außen sucht. Wer mit sich selbst in Berührung kommt, spürt in
sich etwas, das diese Welt übersteigt, und mitten im Gewirr dieser Welt Geborgenheit schafft.
Die Sehnsucht – ein Anker
D ie Sehnsucht ist das Wertvollste, das der Mensch in sich trägt. Sie ist der Anker, den Gott in unser Herz geworfen hat, um uns daran zu erinnern, dass unser Herz im Vorläufigen nicht zur Ruhe kommt. In der Sehnsucht ist in uns schon etwas, das diese Welt übersteigt, über das daher die Welt keine Macht hat. Die Sehnsucht macht den Menschen heilig. Für den Menschen, der mit seiner Sehnsucht in Berührung ist, relativieren sich seine Probleme, seine Krankheiten, seine Verletzungen. Ja er spürt, dass all das, worunter er leidet, seine Sehnsucht noch mehr anstachelt. In seiner Sehnsucht berührt er Gott. Die Sehnsucht ist die Spur, die er selbst in unser Herz gelegt hat. Wenn wir unsere Sehnsucht spüren, dann spüren und erfahren wir seine Liebe mitten in der Kälte und Dunkelheit dieser Welt.
Ewiger Bestand
D er Mensch ist nach Augustinus in der Zeit und er sehnt sich nach der Ewigkeit. So schreibt er in den
Confessiones: »Du bist mir Trost, Herr, du mein Vater, ewig bist du! Ich aber stecke in der Zeit und weiß nicht, wie sie laufen wird, und wirren Wechsels
zersplittert sich mein Denken und all das tiefste Leben meiner Seele, bis ich in dich zerfließe, gereinigt und geläutert in den Gluten deiner Liebe.« Wenn
wir mit Gott eins werden in der Liebe, dann wird die Zeit aufgehoben, dann ist Ewigkeit mitten in der Zeit, dann bekommt unser Leben mitten in dieser Zeit
ewigen Bestand.
Augustinus leidet unter der Vergänglichkeit der Zeit, in der nichts beständig ist, in der man sich auf nichts verlassen kann: »In dieser Welt aber
rollen die Tage dahin, die einen gehen, die anderen kommen, keiner bleibt. Auch die Augenblicke, da wir reden, verdrängen einander, und es bleibt die
erste Silbe nicht stehen, damit die zweite erklingen kann. Seitdem wir reden, sind wir etwas älter geworden, und ohne Zweifel bin ich jetzt älter als
heute morgen. So steht nichts still, nichts bleibt fest in der Zeit. Darum müssen wir den lieben, durch den die Zeiten geworden sind, um von der Zeit
befreit und in der Ewigkeit befestigt zu werden, wo es keine Veränderlichkeit der Zeit mehr gibt.« Die Sehnsucht nach der Ewigkeit ist für Augustinus
zugleich die Sehnsucht nach Beständigkeit, die Sehnsucht nach bleibendem Glück, nach dauernder Liebe, nach Gelingen des Lebens. In einer Zeit, in der
alles im Umbruch war, sehnte sich Augustinus nach etwas Beständigem, auf das er sich verlassen konnte. Das war für ihn Gott, der jenseits aller Zeit und
Veränderlichkeit ist. Da wir heute in einer ähnlichen Zeit sind wie Augustinus, können wir seine Sehnsucht nach der Ewigkeit mitten in der Zeit nachfühlen
und verstehen.
Lebe statt
gelebt zu werden
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