Das große Buch der Lebenskunst
verschiedenen
Kräfte in sich zum Einklang bringen. Die stoische Philosophie spricht von Gott als dem eigentlichen Musiker, der die gegensätzlichen Kräfte des Kosmos
zusammenklingen lässt. Clemens von Alexandrien wendet dieses Bild auf Christus, den göttlichen Logos an: »Der Logos hat die Dissonanz der Elemente zum
Wohlklang gebracht, damit der ganze Kosmos ihm zur Harmonie werde.«
Geführt vom Klang
E i n Weg der Einkehr in das Innere ist für den hl. Augustinus das Singen. Er meint, das Singen führe uns
in das innerste Gemach unserer Seele, in dem Gott in uns wohnt. Augustinus hat diese Theologie des Singens in der Auslegung von Psalm 42,5 entfaltet. Im
Psalm heißt es: »Das Herz geht mir über, wenn ich daran denke: wie ich zum Haus Gottes zog in festlicher Schar, mit Jubel und Dank in feiernder Menge.«
Für Augustinus ist es das jubelnde Singen, durch das wir zum innersten Geheimnis Gottes gelangen, zur geheimen Wohnung Gottes in unserem Herzen (secretum
domus Dei). Es ist nicht nur das eigene Singen, das uns in das Innerste der Seele führt, sondern auch das Hören von Gesang. Wenn wir Menschen hören, die
mit ihrem ganzen Herzen singen und ganz dem Gesang hingegeben sind, dann geht es uns wie dem Hirsch, der von den Wasserquellen angezogen sich auf den Weg
zu Gott macht. Geführt vom Klang der Freude vergessen wir alles Äußere und wenden uns nach innen. Ja, wir werden förmlich nach innen mitgerissen (in
interiora raperetur). Dort innen sind wir im Einklang mit unserem wahren Wesen.
Lass los, was du festhältst
E s war wohl nicht zufällig ein Musiker, nämlich der britische Sänger Paul Williams, der einen Weg
aufgezeigt hat, wie wir mit uns und allem, was in uns ist, in Einklang kommen können: »Lass los, was du festhältst. Und alles wahrhaft dir Gehörende wird
wie durch einen Zauber sofort in deinem Leben erscheinen.« Wenn wir uns an irgendetwas oder an uns selbst festhalten, kann das, was in uns lebt, nicht
aufblühen. Es kann dann keine Harmonie zwischen uns und unserer Umgebung sein. Das gilt für unsere Beziehung zu anderen, aber auch für die Beziehung mit
uns selber. Sobald wir uns selbst loslassen, kommen wir in Berührung mit unserem wahren Bild. Auf einmal entdecken wir, wer wir wirklich sind. Wir spüren
unser wahres Sein, unsere wirklichen Gefühle und den Reichtum unserer Seele. Festhalten heißt immer auch: an einem ganz bestimmten Bild von mir
festhalten, das mein wahres Ich verstellt. Finde ich mich nur gut, wenn ich an diesem Bild festhalte, dann werde ich nie das entdecken, was wirklich zu
mir gehört und was das Meine ist. Einklang, stimmige Resonanz, wird erst möglich, wenn ich loslasse und dem anderen erlaube, so zu sein, wie er ist.
Wie im Himmel
T h ich Nhat Hanh, der buddhistische Mönch aus Vietnam, empfiehlt die Achtsamkeit als Weg, im Einklang mit
sich selbst zu leben. Wer achtsam ist und jeden Augenblick als neu wahrnehmen kann, wie den ersten Tag der Schöpfung, der erlebt sich selbst nicht als
entfremdet, er sieht die Wirklichkeit nicht als banal oder langweilig. Er schwingt mit dem Leben um sich herum mit und erlebt die Welt sozusagen im Zauber
des Anfangs. Für ihn ist sie erfüllt mit unzähligen Kostbarkeiten. Wer so im Einklang ist mit sich und dem Augenblick, den er gerade atmet, der ist, so
sagt der vietnamesische Mönch, schon im Himmelreich: »Wir müssen nicht erst sterben, um ins Himmelreich zu kommen. Tatsächlich genügt es, vollkommen
lebendig zu sein. Atmen wir aufmerksam ein und aus und umarmen wir einen schönen Baum, sind wir im Himmel. Wenn wir einen bewussten Atemzug machen und uns
dabei unserer Augen, unseres Herzens, unserer Leber und unserer Nicht-Zahnschmerzen bewusst sind, werden wir unmittelbar ins Paradies getragen. Frieden
ist vorhanden. Wir müssen ihn nur berühren.«
Freihändig
D er Taoismus ist neben dem Konfuzianismus und dem Buddhismus die dritte große religiöse Tradition
Chinas. In der geistigen Tradition des Tao geht es vor allem um das Lassen. Ich soll die Dinge so lassen, wie sie sind, und nicht ständig störend
eingreifen. Die Überzeugung der östlichen Weisen ist: In den Dingen selbst steckt eine innere Ordnung. Diese Ordnung verlangt vom Menschen ein ihr gemäßes
Verhalten. Auf dem Hintergrund dieser Philosophie ist auch das chinesische Sprichwort zu verstehen: »Wenn du loslässt, hast du zwei Hände frei.« Wenn ich
krampfhaft etwas festhalte, bin ich
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