Das große Buch der Lebenskunst
vorsetzte, über den Haufen und traute der Liebe. Trotz
ihrer Jugend hatte sie ein tiefes Gespür für das Geheimnis des Menschen. Diese große Kennerin der Seele schreibt: »Wenn uns Verzweiflung überkommt, liegt
das gewöhnlich daran, dass wir zu viel an die Vergangenheit und an die Zukunft denken.« Wir sind verzweifelt, weil wir in der Vergangenheit nicht so
perfekt waren, wie wir das sein wollten. Wir können die Vergangenheit nicht loslassen. Und wir schauen ängstlich in die Zukunft.
Der einzige Weg, von der Verzweiflung frei zu werden, ist: ganz im Augenblick zu sein. Jetzt in diesem Augenblick lebe ich vor Gott. Und jetzt bin ich
von seiner Liebe umfangen. Das genügt. Was war und was kommen mag, kümmert mich nicht und bereitet mir keinen Kummer.
Ob Lachen, ob Weinen
D ass die Zeit, unsere Lebenszeit, uns als Aufgabe gegeben ist, finden wir in östlichen und westlichen
Traditionen. Im Zen-Buddhismus gibt es Weisheiten, die denen der stoischen Philosophie ähnlich sind. Da heißt es: »Ob man das Leben lachend oder weinend
verbringt, es ist die gleiche Zeitspanne.« Die großen spirituellen Lehrer sind sich darin einig: Wir sind verantwortlich dafür, mit welcher Stimmung wir
die Zeit verbringen, mit Angst oder Vertrauen, mit Freude oder Trauer, mit Sorge oder Zuversicht. Auch hier hängt es von der Deutung ab, die wir dem Leben
geben. Wenn wir alles negativ sehen, dann werden wir unsere Zeit weinend verbringen. Wenn wir uns zu viele Sorgen machen, dass unsere Vorstellungen vom
Leben auch eintreffen, dann wird das Leben anstrengend. Denn wir haben nie die Sicherheit, dass sich unsere Wünsche erfüllen. Wenn wir uns aber dem Leben
über lassen, im Vertrauen, dass es gut ist, wie es ist, dass es gerade so sein darf, wie wir es erleben, dann können wir jeden Augenblick genießen.
Die Sorgenschachtel
A b warten kann Ausdruck von Unentschlossenheit, manchmal auch von Trägheit sein. Aber es kann auch eine
Tugend sein – und manchen überflüssigen Ärger ersparen. Auf dem Schreibtisch des Gründers der Automobilfirma Chrysler, Walter Chrysler, stand eine
Schachtel, in der er all das verwahrte, was ihm Sorgen bereitete. Nach einer Woche prüfte er, was von seinen Sorgen noch übrig war. Die meisten Dinge
hatten sich von selbst gelöst, und andere hatte er in der Zwischenzeit einfach vergessen. Er begriff, dass die meisten Sorgen etwas von einem Schnupfen
haben: Ob man ihm nun sieben Tage oder nur eine Woche gibt – das ist eine Frage der Einstellung. An den Tatsachen ändert es nichts. Ob man sich Sorgen
macht oder nicht, bleibt sich gleich. Walter Chrysler hat die Wahrheit des Satzes erfahren: »Viele Probleme erledigen sich von selbst, wenn man ihnen Zeit
dazu lässt.« (Krishna Menon)
Leben ist nicht morgen, Leben ist jetzt
A bbas Poimen war einer der großen Wüstenväter aus dem vierten Jahrhundert. Zu ihm kamen viele
Ratsuchende. Einer stellte ihm einmal die Frage, für wen das Wort der Schrift gelte: »Sorget nicht für morgen.« Poimen gab zur Antwort: »Es ist zu einem
Menschen gesagt, der wegen einer Versuchung verzagt wird und sich voller Sorgen fragt: Wie lange werde ich diese Versuchung noch aushalten? Doch sollte er
lieber nachdenken und sich täglich sagen: Heute!« Es ist eine eigenartige Deutung, die Poimen dem Wort Jesu gibt. Ihm geht es nicht um die Sorge um
Nahrung oder Kleidung. Vielmehr bezieht er es auf die Sorge um das Bestehen des Lebens. Ich kenne viele Menschen, für die dieses Wort hilfreich wäre. Sie
sind voller Sorge, ob sie mit ihrer Depression zurechtkommen, ob sie der Versuchung zur Verzweiflung oder Resignation widerstehen können. Ihnen gilt der
Rat: Sorge nicht für morgen. Lebe jetzt in diesem Augenblick. Jetzt hast du genügend Kraft. Was morgen ist, das überlasse dem kommenden Tag. Oder aber
überlasse es Gott, der dich auch morgen trägt.
Wenn es Nacht wird
D er Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg, ein scharfsichtiger Beobachter der menschlichen
Verhältnisse, hat einmal notiert: »Das Sorgenschränkchen, das Allerheiligste der innersten Seelenökonomie, das nur des Nachts geöffnet wird. Jedermann hat
das seinige.« Er will damit sagen: Viele lassen untertags ihre Sorgen nicht zu. Man möchte sich nicht in seinen Geschäften stören lassen. Man will
gegenüber seiner Umgebung als problemlos und fröhlich erscheinen. Man will sich nicht aussondern durch seine ganz persönlichen Sorgen. Aber sie lassen
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