Das große Buch der Lebenskunst
handlungsunfähig. Ich habe keine Hände, die handeln können. Denn sie sind mit dem Festhalten beschäftigt. Manchmal
halte ich mit einer Hand etwas fest, manchmal auch mit beiden. Das Loslassen schenkt mir zwei freie Hände, mit denen ich das anpacken kann, was wirklich
wichtig ist. Diese freien Hände ermöglichen es mir, etwas zu gestalten und zu formen, einem anderen die Hand zu geben, ihm meine Hände zu reichen, wenn er
in Not ist, und ihn zärtlich zu berühren, wenn er der Liebe bedarf.
Worauf Wunder beruhen
V iele Menschen hoffen auf ein Wunder: auf das Wunder der Heilung, auf das Wunder, dass sie die richtige
Arbeitsstelle bekommen oder eine Prüfung mit Erfolg bestehen. Sie erwarten die Wunder von außen. Gott soll ein Wunder an ihnen wirken. Das tut Gott auch
zuweilen. Aber wir sollten nicht auf das Außergewöhnliche starren und Sensationen suchen. Denn Gottes Wunder umgeben uns immer. Wir müssen nur unsere
Augen öffnen. Dann auch werden wir die wunderbare Schönheit der Natur wahrnehmen. Wir werden das Wunder der Begegnung mit einem anderen Menschen
erleben. Und wir werden das Wunder spüren, dass wir überhaupt da sind, dass wir atmen, fühlen, dass wir leben. Die amerikanische Autorin Willa Cather
schreibt über diese Erfahrung: »Wunder beruhen einfach darauf, dass unsere Wahrnehmungen feiner gemacht werden, so dass unsere Augen für einen Augenblick
das sehen und unsere Ohren das hören können, was uns immer umgibt.« Jeden Tag achtsam sein auf das Wunder, Augen und Ohren dafür öffnen, dem Wunder »wie
einem Vogel die Hand hinhalten« (Hilde Domin) – das ist wirkliche Lebenskunst.
Nie zu spät
I n Gesprächen erfahre ich immer wieder, wie viele Menschen daran leiden, nicht wirklich gelebt zu
haben. Sie haben den Eindruck, dass sie bisher immer nur Erwartungen anderer erfüllt, aber nie wirklich das gelebt haben, was in ihnen ist. Sie sind am
Leben vorbeigegangen. Und jetzt haben sie den Eindruck, dass es zu spät ist, den Weg zurück in ihr Leben zu finden. Doch es ist nie zu spät. Es geht nicht
darum, der Vergangenheit nachzutrauern. Jetzt, in diesem Augenblick, bin ich fähig, ganz zu leben. Ich muss dabei nicht alles anders machen. Es genügt,
einfach da zu kommen, mit mir selbst in Berührung zu sein und zu leben. Wenn ich diesen Tag bewusst lebe, dann kann ich am Abend mit dem römischen
Philosophen Seneca sagen: »Wer jeden Abend sagen kann ,Ich habe gelebt‘, dem bringt jeder Morgen einen neuen Gewinn.« Wenn ich heute wirklich lebe, wird
auch der morgige Tag gelingen.
In Balance bleiben
W ir kommen nicht von allein in Einklang mit uns selbst. Es ist eine Kunst, das Leben so zu leben, dass es
für uns stimmig ist. Theodor Fontane beschreibt diese Kunst als eine Fähigkeit, das innere Gleichgewicht in sich herzustellen: »Leicht zu leben ohne
Leichtsinn, heiter zu sein ohne Ausgelassenheit, Mut zu haben ohne Übermut, das ist die Kunst des Lebens.« Immer wenn wir eine Haltung absolut setzen,
wird uns diese Haltung, auch wenn sie in sich noch so gut ist, keinen Halt mehr geben, sondern uns aus der Balance bringen. Es hat etwas Schwebendes an
sich, die Leichtigkeit des Seins zu leben, ohne leichtsinnig zu werden. Und es ist eine Kunst, heiter zu sein, ohne dabei ausgelassen zu werden, Mut zu
beweisen, ohne übermütig zu werden. Diese schwebende Balance können wir nie als festen Besitz verbuchen. Es braucht vielmehr ein feines Gespür, das
jeweils für uns passende Gleichgewicht zu finden. Und es braucht Aufmerksamkeit, um darin zu bleiben.
Die Frage selber lieben
I n einem wunderbaren Gedicht beschreibt Rainer M. Rilke das Wesen unserer Geduld:
»Man muss Geduld haben
Gegen das Ungelöste im Herzen
Und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.«
Der Mensch ist sich oft ein Rätsel. Ich kann ungeduldig gegen mich selber wüten, weil ich mich nicht verstehe. Oder aber ich kann das Ungelöste und
Unverständliche geduldig annehmen und die ungelösten Fragen in mir selber lieben. Bücher, die in einer fremden Sprache geschrieben sind, die ich nicht
verstehe, behandle ich mit besonderer Sorgfalt. Das Fremde hat eine eigene Anziehungskraft. Wenn ich das Fremde in mir behutsam behandle, dann bin ich
einverstanden mit dem Rätselhaften meines Lebens und meiner Existenz.
So wird Frieden möglich
T h omas von Kempen, der Autor der
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