Das große Doppelspiel
Umstände
sonderbar gelas sen, vollkommen beherrscht – das
heißt, sie bildete es sich je denfalls ein – auf den
nächsten Stuhl. Er trat ans Fenster und zog die Vorhänge
zurück, und Regen pochte an die Scheiben wie Geisterfinger, als
stünde Anne-Marie dort draußen und versuchte hereinzukommen.
Er redete weiter, ohne sich umzu drehen.
»Und was Ihnen außerdem nicht gerade
geholfen hat, war die Tatsache, daß ich bereits vor Ihrer Ankunft
hier einen Hin weis auf Ihre wahre Identität bekommen habe,
von einem unse rer Agenten in London, einem Maulwurf, den wir
schon seit geraumer Zeit bei der SOE arbeiten lassen.«
Sie war entsetzt. »Das glaube ich nicht.«
»Ich versichere Ihnen, daß es
stimmt, aber ich komme gleich darauf zurück. Zuerst zu Ihrer
Schwester.« Er wandte sich um. »Als wir das Schloß
als Hauptquartier auswählten, wußten wir natürlich,
daß wir eine Menge Aufmerksamkeit erregen wür den, und
deshalb beschloß ich einfach, London einen Agenten zu liefern,
und wer hätte sich besser dafür geeignet als AnneMarie
Trevaunce?«
»Die als Gegenleistung so weiterleben konnte wie
vorher, in ihrem gewohnten Stil, ist es das, was Sie mir sagen
wollen?«
Er zog die Vorhänge wieder zu. »Nicht
ganz«, antwortete er, als er sich umgedreht hatte. »Nicht
ganz. Sie war nie billig, egal, was sie sonst auch gewesen sein
mag.«
»Was war sie denn sonst?«
Er beantwortete die Frage nicht, sondern fuhr mit jener ge
lassenen Stimme fort. »Sie lieferte den Leuten bei der SOE
genug Informationen, um sie zufriedenzustellen, aber das mei ste
davon war natürlich vergleichsweise belanglos. Sie benutzte hier
jemanden von der Résistance, was wir sehr wohl wußten,
aber wir ließen sie in Ruhe. Ich ließ sie sogar mit Dissard
arbeiten, um das Bild zu vervollständigen. Dann bekam London Wind
von einer wichtigen Konferenz und tat etwas, das noch nicht dagewesen
war. Sie zitierten sie nach England, und ich sagte, sie müsse
hin.«
»Und sie hat immer getan, was Sie ihr sagten?«
»Selbstverständlich. Wir hatten ja
Hortense, verstehen Sie? Anne-Maries einzige Schwäche, ich glaube,
das einzige, was sie mit Ihnen gemeinsam hat, ist die Liebe zu ihrer
Tante.« Geneviève starrte ihn verständnislos an.
»Von Anfang an ihr einziger Grund, begreifen Sie nicht?« Er
schüttelte den Kopf. »Ich habe langsam den Eindruck,
daß Sie Ihre Schwester über haupt nicht kannten.«
Der Regen klatschte nun intensiver ans Fenster.
Geneviève saß da und konnte kein Wort hervorbringen, so
aufgewühlt war sie.
»Da ich wußte, daß Sie mich täuschten, schien es mir ratsam,
mit Dissard zu reden.«
»René?« flüsterte sie.
»Ja, ich habe dafür gesorgt, daß er
eine Nachricht bekam, die ihn dringend fortrief. Als er am Treffpunkt
war, wurde er von Reichslinger und seinen Leuten in Empfang
genommen.«
»Wo ist er jetzt? Was haben Sie mit ihm gemacht?«
»Er hat sich erschossen«, sagte Priem.
»Sofort, ehe sie ihn entwaffnen konnten. Kopfschuß. Um Sie
zu schützen, denke ich. Er muß gewußt haben, daß
er in Reichslingers Hand nicht lange standgehalten hätte. Jeder
Mann kommt früher oder spä ter zu dem Punkt, an dem er
zerbricht. Aber es spielte keine Rolle. Unser Mann in London hatte uns
schon alle notwendi gen Informationen geliefert. Unser Maulwurf
bei der SOE. Ein gewisser Dr. Baum, ich glaube, Sie kennen ihn. Das
einzige Problem war, daß er, wie ich schon seit einiger Zeit
weiß, zu gleich für die andere Seite arbeitet. Zum
Glück habe ich drüben eine zuverlässige Quelle. Sie
verstehen.«
»Sie lügen«, sagte Geneviève.
»Ihre Schwester befindet sich in diesem
Augenblick im Kel ler des Hauses Raglan Lane Nummer hunderteins in
Hamp stead. Soweit ich weiß, ist sie ziemlich …
ziemlich gestört, aber das wissen Sie ja.«
Sie antwortete, ohne zu überlegen, sprudelte die
Worte zor nig hervor. »Und daran seid ihr Schweine schuld!
Ihre eigene Agentin, und eine SS-Streife hat sie weggeschleppt. Sie
haben sie zerstört, diese Bestien. Haben Sie das auch
gewußt?«
»Das stimmt nicht«, sagte er, und in
seinen Augen war auf einmal etwas, das an Mitleid grenzte. »Es
waren Ihre eigenen Leute, niemand anders.«
Es war plötzlich totenstill, und sie
hatte eine furchtbare Angst. »Was soll das heißen?«
flüsterte sie nach einer Weile. »Was meinen Sie
damit?«
»Arme Geneviève«, sagte er. »Ich denke, Sie sollten mir ge nau zuhören.«
Was er ihr erzählte, war im
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