Das große Haus (German Edition)
während es für ihn eine Frage von Leben und Tod war.
Am nächsten Tag ging ich nicht los, um einen neuen Tisch zu suchen, auch nicht am Tag danach. Als ich mich an die Arbeit setzte, war ich nicht nur unfähig, die notwendige Konzentration aufzubringen, sondern beim Überfliegen der Seiten, die ich schon geschrieben hatte, fand ich sie ein Geplätscher überflüssiger Worte, denen es an Leben und Authentizität fehlte, ohne einen zwingenden Grund dahinter. Was, wie ich gehofft hatte, ein subtiler Kunstgriff sein sollte, wie er in der besten Romanliteratur verwendet wird, war nur, das sah ich jetzt, eine künstliche Feld-Wald-und-Wiesen-Mischung, ein Kunstgriff, der dazu diente, die Aufmerksamkeit von dem abzulenken, was letzten Endes seicht ist, statt die ungeheuren Tiefen unter der Oberfläche aller Dinge zu enthüllen. Was eine schlichtere, reinere Prosa werden sollte, geschärft durch die Entblößung von allen schmückenden Ornamenten, war in Wirklichkeit eine dumpfe und schwerfällige Masse, ohne Spannung oder Kraft, die in Gegensatz zu nichts stand, nichts auslöste und nichts ausrief. Obwohl ich eine ganze Weile mit dem Mechanismus hinter diesem Buch gekämpft hatte und es mir nicht gelungen war, herauszuarbeiten, wie sich die Teile ineinanderfügten, hatte ich doch die ganze Zeit geglaubt, es stecke etwas darin, ein Entwurf, der sich, wenn ich ihn nur freilegen und von dem Rest trennen könnte, als so feinsinnig und irreduzibel erweisen würde, wie es die Idee eines Romans verlangt, der nur so und nicht anders geschrieben werden kann, um sie auszudrücken. Aber jetzt sah ich, dass ich mich geirrt hatte.
Ich verließ die Wohnung und machte einen langen Spaziergang durch den Riverside Park und den Broadway hinunter, um meine Stimmung aufzuheitern. Bei Zabar’s hielt ich an und holte mir ein paar Sachen zum Abendessen, winkte demselben Mann hinter der Käsetheke, der schon da gewesen war, als ich meine Großmutter besuchen ging, schlängelte mich an den buckligen, schwer gepuderten Alten vorbei, die in großen Einkaufswagen ein Glas Gurken vor sich herschoben, stand in der Schlange hinter einer Frau mit einem ewigen, unfreiwilligen Nicken – ja, ja, ja, ja –, dem überschwänglichen Ja des Mädchens, das sie einst gewesen war, auch wenn sie nein meinte, nein, es reicht, nein danke.
Aber als ich wieder nach Hause kam, war es genau das Gleiche. Am nächsten Tag noch schlimmer. Mein Urteil über alles, was ich im Lauf des letzten Jahres oder vor noch längerer Zeit geschrieben hatte, festigte sich auf eine Weise, die mich krank machte. Alles, was ich in den folgenden Tagen an dem Schreibtisch vollbrachte, bestand darin, das Manuskript samt Notizen in einen Karton zu packen und die Schubladen ihres Inhalts zu entleeren. Da waren alte Briefe, Papierschnitzel, auf die ich Sachen geschrieben hatte, die ich selbst nicht mehr verstand, verstreuter Krimskrams, kaputte Teile längst weggeworfener Objekte, allerhand Elektrozeug, Briefpapier mit dem Aufdruck der Adresse, wo ich mit meinem Exmann S gewohnt hatte – ein Sammelsurium zumeist nutzloser Dinge sowie, unter ein paar alten Heften, Daniels Postkarten. Ganz hinten in einer Schublade fand ich ein vergilbtes Taschenbuch, das Daniel vor so vielen Jahren vergessen haben musste, einen Erzählband von einer Schriftstellerin namens Lotte Berg, den die Autorin mit einer Widmung für ihn versehen hatte, gezeichnet 1970. Ich füllte eine große Tüte mit Sachen zum Wegwerfen; alles andere verstaute ich in einer Kiste, außer den Postkarten und dem Taschenbuch. Diese steckte ich, ohne sie zu lesen, in einen großen braunen Umschlag. Ich leerte all die vielen Schubladen, manche sehr klein, andere, wie gesagt, von durchschnittlicher Größe, bis auf eine: die einzige mit einem kleinen Messingschloss. Wenn man am Tisch saß, befand sich das Schloss direkt oberhalb des rechten Knies. Diese Schublade war, solange ich zurückdenken konnte, immer verschlossen gewesen, und trotz immer neuer Suche habe ich den Schlüssel nicht gefunden. Einmal, in einem Anfall von Neugierde oder vielleicht Langeweile, wollte ich das Schloss mit einem Schraubenzieher aufbrechen, aber dabei habe ich mir nur die Knöchel aufgeschrammt. Oft hätte ich mir gewünscht, eine andere Schublade wäre verschlossen, weil die rechts oben am handlichsten war und ich instinktiv jedes Mal, wenn ich irgendetwas aus einer der vielen Schubladen brauchte, zuerst nach dieser griff, was regelmäßig ein kurzes
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