Das große Haus (German Edition)
gelebt und am Juilliard-Konservatorium Klavier studiert hatte, bis sie eines Tages beschloss, das riesige Instrument, an das sie seit ihrem fünften Lebensjahr gefesselt gewesen war, nicht länger spielen zu wollen, und ein paar Wochen später nach Hause, nach Jerusalem, zurückgekehrt war. Dort lebte sie nun seit einem Jahr und versuchte, sich darüber klarzuwerden, wie es weitergehen solle. Sie war nur nach New York gekommen, um ein paar Sachen abzuholen, die sie bei Freunden untergestellt hatte, und wollte nun alles, zusammen mit dem Schreibtisch, nach Jerusalem verschiffen.
Mag sein, dass es andere Details gab, die ich verpasst habe, denn während sie sprach, begann ich mit der schwer annehmbaren Vorstellung zu ringen, dass ich im Begriff war, den einzigen bedeutsamen Gegenstand meines schriftstellerischen Daseins, die einzige physische Repräsentation all dessen, was ansonsten schwerelos und ungreifbar war, an diese Heimatlose abzugeben, die vielleicht hin und wieder davorsitzen würde wie vor einem väterlichen Altar. Und doch, Euer Ehren, was sollte ich tun? Die Abmachungen waren getroffen, am nächsten Tag würde sie mit einem Umzugswagen wiederkommen, der die Möbel direkt zu einem Schiffscontainer in Newark bringen sollte. Da ich es nicht ertragen konnte, mit anzusehen, wie der Schreibtisch weggefahren wurde, sagte ich ihr, ich sei nicht da, aber ich würde dafür sorgen, dass Vlad, der ruppige rumänische Hausmeister, da wäre, um ihr aufzumachen.
Früh am nächsten Morgen legte ich den braunen Umschlag mit Daniels Postkarten auf den leeren Schreibtisch und fuhr nach Norfolk in Connecticut, wo ich mit S neun- oder zehnmal ein Sommerhaus gemietet hatte und seit unserer Trennung nicht mehr gewesen war. Erst als ich bei der Bibliothek anhielt und aus dem Auto stieg, um mir mit Blick auf den Stadtpark die Beine zu vertreten, wurde mir klar, dass ich mir keinen meiner Gründe dafür, hier zu sein, durchgehen lassen durfte und dass ich obendrein verzweifelt vermeiden wollte, jemanden zu treffen, den ich kannte. Ich stieg wieder ins Auto und fuhr vier oder fünf Stunden lang ziellos über die Landstraßen, durch New Marlborough nach Great Barrington und weiter nach Lenox, lauter Straßen, die S und ich hundertmal entlanggefahren waren, ehe wir aufblickten und merkten, dass unsere Ehe verhungert war.
Im Fahren fiel mir ein, dass S und ich vier oder fünf Jahre nach unserer Heirat bei einem deutschen Tänzer, der damals in New York lebte, zu einem Abendessen eingeladen gewesen waren. Um diese Zeit arbeitete S an einem mittlerweile geschlossenen Theater, wo der Tänzer ein Solostück aufführte. Die Wohnung war klein, gefüllt mit dem ungewöhnlichen Hab und Gut des Tänzers, Sachen, die er auf der Straße gefunden, von seinen rastlosen Reisen mitgebracht oder geschenkt bekommen hatte, alles mit jenem Sinn für Raum, Proportionen, Rhythmus und Anmut arrangiert, der es zu einer solchen Freude machte, ihn auf der Bühne anzuschauen. Tatsächlich war es seltsam und beinahe frustrierend, ihn in Straßenkleidung und braunen Hausschuhen zu sehen, wie er sich so ökonomisch durch die Wohnung bewegte, ohne oder mit nur geringen Zeichen der unglaublichen körperlichen Ausdruckskraft, die er in sich barg, und ich verzehrte mich buchstäblich vor Verlangen nach einem Bruch dieser pragmatischen Fassade, einem Sprung oder einer Drehung, irgendeiner Explosion seiner wahren Energie. Gleichwohl, nachdem ich mich damit abgefunden hatte und mich in seine vielen kleinen Sammlungen vertiefte, erfasste mich das beschwingte, jenseitige Gefühl, das mich manchmal überkommt, wenn ich die Lebenswelten anderer betrete, wenn es mir einen Augenblick absolut möglich erscheint, meine banalen Gewohnheiten zu ändern und so zu leben, ein Gefühl, das sich spätestens am nächsten Morgen verflüchtigt, wenn ich mit den vertrauten, unbeweglichen Konturen meines eigenen Lebens erwache. Irgendwann stand ich vom Esstisch auf, um aufs Klo zu gehen, und im Flur kam ich an der offenen Tür des Schlafzimmers vorbei. Es wirkte karg, nur ein Bett, ein Holzstuhl und ein kleiner Altar mit Kerzen, der in einer Ecke errichtet war. Durch ein großes Fenster nach Süden lag Lower Manhattan schwebend in der Dunkelheit. Die anderen Wände waren weiß, bis auf ein mit Stecknadeln angepinntes Gemälde, ein sprühendes Bild, aus dessen vielen farbenfrohen und hochinspirierten Pinselstrichen manchmal Gesichter auftauchten, wie aus einem Sumpf, hier und dort mit
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