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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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sollte, höchstwahrscheinlich tot war. In einer Nacht träumte ich, Daniel Varsky und ich säßen auf einer schmalen Brücke über dem East River. Aus irgendeinem Grund trug er eine Augenklappe wie Mosche Dajan. Aber spürst du nicht tief innen, dass etwas Besonderes an dir ist?, fragte er, indem er ungezwungen seine Beine baumeln ließ, während unter uns Schwimmer oder vielleicht Hunde gegen die Strömung kämpften. Nein, flüsterte ich, bemüht, die Tränen zu unterdrücken. Nein, ich spüre es nicht, während Daniel Varsky mich mit einer Mischung aus Bestürzung und Mitleid ansah.
    Einen Monat lang schrieb ich so gut wie gar nichts. Um diese Zeit bestand einer meiner vielen seltsamen Jobs zum Geldverdienen darin, für einen chinesischen Cateringservice, der dem Onkel eines Freundes gehörte, Origami-Vögel zu falten, und ich übertraf mich selbst damit, Vögel, Kraniche in allen Farben zu falten, bis meine Hände erst taub wurden, dann so steif, dass ich meine Finger nicht mehr um einen Becher biegen konnte und direkt aus dem Wasserhahn trinken musste. Trotzdem, es kümmerte mich nicht, irgendwie fand ich es fast tröstlich, die Welt einmal anders zu sehen, ein jegliches Objekt als Variation der elf Faltungen, deren ein Kranich bedurfte, tausend Kraniche pro Schwarm, die in Schachteln gepackt den wenigen Platz einnahmen, der nicht von dem Schreibtisch besetzt war. Um die Matratze, auf der ich schlief, zu erreichen, musste ich mich so zwischen den Schachteln und dem Tisch hindurchwinden, dass mein ganzer Körper einen Moment lang gegen den Schreibtisch gepresst war, dessen undefinierbaren, schmerzlich vertrauten Holzgeruch zu atmen mich jedes Mal in akutes Elend stürzte, sodass ich die Matratze schließlich aufgab und meine Nächte lieber auf dem Sofa verbrachte, bis der Tag kam, an dem der Mann die ganzen Kranichschachteln abholte (er gab ein anerkennendes Pfeifen von sich, ehe er das Geld abzählte) und meine Wohnung wieder leer war. Oder, besser gesagt, leer bis auf die Sachen – Schreibtisch, Sofa, Truhe und Stühle – von Daniel Varsky. In der Folgezeit tat ich mein Bestes, um den Tisch zu ignorieren, aber je weniger ich ihn beachtete, umso mehr schien er zu wachsen, und es dauerte nicht lange, bis ich Platzangst bekam und trotz der Kälte dazu überging, bei offenem Fenster zu schlafen, was meinen Träumen eine merkwürdige Strenge verlieh. Dann, als ich eines Abends an dem Tisch vorbeiging, fiel mir ein Satz auf einer Manuskriptseite ins Auge, die ich vor ein paar Monaten geschrieben hatte. Der Satz blieb mir im Kopf, während ich weiterging zum Klo, irgendetwas stimmte nicht damit, und als ich auf der Toilette saß, war plötzlich die richtige Wortkonstellation da. Ich kehrte an den Schreibtisch zurück, strich den alten Satz aus und schrieb den neuen hin. Dann setzte ich mich und begann einen anderen Satz zu bearbeiten, danach noch einen, mein Kopf belebte sich, die Gedanken knisterten, die Wörter schnappten wie Magnete zusammen, und bald vergaß ich mich umstandslos in meiner Arbeit. Ich erinnerte mich wieder an mich selbst.
    So erging es mir immer wieder, die unausgesprochene Überzeugung kehrte jedes Mal zurück und setzte sich gegen die ängstliche Unsicherheit durch. Obwohl im Lauf der Jahre ein Buch nach dem anderen hinter meinen Erwartungen zurückblieb, jedes eine neue Form des Versagens, hielt ich an dem eingeschworenen Glauben fest, dass der Tag kommen und ich mein Versprechen zu guter Letzt erfüllen würde, bis es mich plötzlich mit völliger Klarsicht packte, als hätte ein Schlag auf den Kopf meine Perspektive verändert und alles an seinen Platz gerückt – Was, wenn ich mich geirrt hatte? Jahrelang geirrt, Euer Ehren. Von Anfang an. Wie offensichtlich es auf einmal schien. Und wie unerträglich. Wieder und wieder durchfuhr und zerriss mich die Frage. An meine Matratze geklammert, als wäre sie ein Floß, in den Strudel der Nacht geschleudert, drehte und wälzte ich mich im Bett, verzehrt von fieberhafter Panik, und wartete verzweifelt auf den ersten Schimmer Licht im Himmel über Jerusalem. Als es endlich Morgen war, wanderte ich erschöpft, halb träumend, durch die Straßen der Altstadt, und einen Augenblick fühlte ich mich an der Grenze eines erleuchteten Verstehens, als müsste ich nur um die nächste Ecke biegen, um endlich das Zentrum aller Dinge zu entdecken, das, wonach ich mein Leben lang gestrebt, was ich immer hatte sagen wollen, und von da an würde es nicht mehr nötig

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