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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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in Wirklichkeit auf dem Sofa eingeschlafen war, und während ich diese Lüge in den Mund nahm, fiel mein Blick auf einen dunklen Speichelfleck. Ich komme rüber, sagte er, und eine Viertelstunde später stand er an meiner Tür, bleich, mit einer verknitterten braunen Tüte in der Hand. Es musste einige Zeit her sein, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, denn ich war überrascht, wie dünn sein Haar geworden war. Varsky ist verschwunden, sagte er. Was?, sagte ich, dabei hatte ich ihn genau gehört, und wie verabredet drehten wir uns beide nach dem aufgetürmten Schreibtisch um, starrten ihn an, als wäre es möglich, dass unser aufgeschossener dünner Freund mit der großen Nase am Ende lachend aus einer der vielen Schubladen sprang. Aber es geschah nichts, außer dass ein Rinnsal Traurigkeit langsam ins Zimmer sickerte. Sie haben ihn in der Morgendämmerung aus seinem Haus geholt, flüsterte Paul. Darf ich reinkommen?, und ohne die Antwort abzuwarten, ging er an mir vorbei, öffnete den Geschirrschrank und holte zwei Gläser, die er mit Scotch aus der Flasche in der Papiertüte füllte. Wir hoben unsere Gläser auf Daniel Varsky, dann füllte Paul sie neu, und wir stießen noch einmal an, diesmal auf alle verschleppten Dichter Chiles. Als die Flasche alle war und Paul gebeugt in seinem Mantel auf dem Sessel mir gegenübersaß, einen harten, aber leeren Blick in den Augen, überwältigten mich zwei Gefühle: ein Bedauern, dass nichts jemals bleibt, wie es ist, und die Ahnung, dass die Bürde, unter der ich mich mit meiner Arbeit plagte, jetzt unermesslich schwerer geworden war.
    Daniel Varsky ging mir nicht mehr aus dem Kopf, und es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Meine Gedanken wanderten zu jenem Abend zurück, an dem ich bei ihm gewesen war, mit großen Augen vor den an die Wände gepinnten Karten all der Städte stand, in denen er gelebt hatte, und er von Orten erzählte, die mir ein Geheimnis waren – einem aquamarinblauen Fluss außerhalb von Barcelona, in dem man unter Wasser durch ein Loch tauchte und in einem Tunnel, halb Luft, halb Wasser, wieder an die Oberfläche kam, wo man meilenweit gehen und nur dem Echo seiner eigenen Stimme lauschen konnte, oder von unterirdischen Gängen in den Bergen Judäas, so eng, wie die Hüfte eines Mannes breit ist, wo die Anhänger des Bar Kochba beim Ausharren gegen die Römer den Verstand verloren hatten und durch die Daniel geschlüpft war, mit einem Streichholz als einziger Beleuchtung, um den Weg aus dem Labyrinth zu finden –, während ich, schon immer leicht klaustrophobisch, kleinmütig nickte und mir danach anhörte, wie er – ohne mit der Wimper zu zucken und ohne den Blick zu senken – sein Gedicht vortrug. Vergiss alles, was ich je sagte. Es war wirklich ziemlich gut, Euer Ehren, in Wahrheit war es ein erstaunliches Gedicht, und ich habe es keineswegs vergessen. Es war von einer Natürlichkeit, die ich, so schien mir, nie besitzen würde. Es tat weh, mir das einzugestehen, aber ich hatte schon immer diesen Verdacht gegen mich gehegt, die kleine Lüge unter der Oberfläche meiner Zeilen geargwöhnt, die darin bestand, dass ich die Wörter gleichsam zur Dekoration anhäufte, während er alles mehr und mehr abstreifte, bis er sich gänzlich entblößt hatte, wie eine sich windende kleine weiße Larve (es war etwas Unanständiges daran, das es noch atemberaubender machte). Bei dieser Erinnerung, Paul vor Augen, der inzwischen auf dem Sessel gegenüber in den Schlaf gesunken war, spürte ich einen Schmerz im Brustraum, direkt unter dem Herzen, wie den tiefen Stich eines kleinen Taschenmessers, und ich krümmte mich auf seinem Sofa, diesem Sofa, auf dem ich beim Einschlafen so oft an nichts gedacht, Belanglosigkeiten nachgehangen hatte, auf welchen Wochentag mein Geburtstag fiele oder dass ich ein Stück Seife kaufen müsse, während Daniel Varsky irgendwo in der Wüste, den Ebenen, den Kellern Chiles zu Tode gefoltert wurde. Danach hatte ich beim morgendlichen Anblick des Schreibtisches nur noch das Bedürfnis zu weinen, nicht allein weil er das grausame Schicksal meines Freundes verkörperte, sondern auch weil er jetzt nur noch dazu diente, mir in Erinnerung zu rufen, dass er mir nie wirklich gehört hatte und nie gehören würde, dass ich nur seine zufällige Hüterin war, die sich wahnwitzigerweise eingebildet hatte, sie besäße etwas, eine fast magische Fähigkeit, die sie in Wahrheit nie gehabt hatte, und dass der wahre Dichter, der daran sitzen

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