Das große Haus (German Edition)
von dem Anblick. Die Frage indes war immer noch da, und meine Gedanken kehrten zu ihr zurück wie eine Zunge, die das weiche Fleisch an der Stelle eines fehlenden Zahns befühlt: Es tat weh, aber ich wollte es wissen. Als die Sonne unterging und die Dunkelheit sich einer Haube gleich über die Hügel senkte, verstärkte sich alles in meinem Kopf wie in einem Theater mit perfekter Akustik, wieder sickerte eine elende Beklemmung ein, und die dringende Frage stieg erneut in mir auf, aber was war es nur, was?, bis sie mit einem Anfall von Übelkeit schließlich an die Oberfläche kam:
Was, wenn ich mich geirrt hatte?
Euer Ehren, solange ich mich erinnern kann, habe ich mich für etwas Besonderes gehalten. Oder vielmehr glaubte ich, unter allen anderen für etwas Besonderes bestimmt zu sein, auserwählt. Ich will Ihre Zeit nicht mit den Verletzungen meiner Kindheit verschwenden, mit meiner Einsamkeit oder den angstvollen, traurigen Jahren, die ich in der Bitterkapsel des Ehelebens meiner Eltern, unter der Herrschaft meines tobsüchtigen Vaters zugebracht habe – wer ist schon nicht ein Überlebender seiner zerstörerischen Kindheit? Es erübrigt sich, Ihnen meine zu beschreiben; ich möchte nur sagen, dass ich mich, um diese düstere und oft furchtbare Zeit meines Lebens zu überstehen, darein geflüchtet habe, gewisse Dinge von mir selbst zu glauben. Ich sprach mir keine magischen Kräfte zu, keine über mich wachende Schutzmacht – es war nichts so Konkretes –, noch verlor ich die unabänderliche Realität meiner Situation je aus den Augen. Ich habe mich einfach davon überzeugt, dass erstens die gegebenen Umstände meines Lebens eher zufällig waren und nicht meiner Seele entsprangen und dass ich zweitens etwas Einzigartiges besaß, eine besondere gefühlsmäßige Stärke und Tiefe, die mir erlauben würden, den Verletzungen und Ungerechtigkeiten standzuhalten, ohne daran zu zerbrechen. In den schlimmsten Momenten musste ich mich nur unter die Oberfläche ducken und in jenen Bereich eintauchen, in dem diese geheimnisvolle Begabung in mir lebte, und solange ich den Weg dorthin fand, wusste ich, dass ich ihrer Welt eines Tages entfliehen und mein Leben in einer anderen einrichten würde. In unserem Wohnhaus gab es eine Ausstiegsluke, die zum Dach führte, und wenn mir danach zumute war, rannte ich vier Treppen hinauf und kletterte bis zu dem Punkt an einer Mauer hoch, von dem aus ich den gleißenden Schimmer der Bahnüberführung mit den fahrenden Zügen sehen konnte, und dort, wo ich mir sicher war, dass mich niemand finden würde, durchströmte mich eine heimliche Erregung, ein so freudiges Beben, dass sich mir die Nackenhaare sträubten, weil ich in der rauen Stille des Augenblicks das Gefühl bekam, was die Welt da von sich offenbarte, sei nur für mich allein bestimmt. Wenn keine Möglichkeit bestand, aufs Dach zu gelangen, konnte ich mich unter dem Bett meiner Eltern verstecken, und obwohl es dort nichts zu sehen gab, empfand ich den gleichen Kitzel, spürte den gleichen privilegierten Zugang zum Unterbau der Dinge, zu den Gefühlsströmen, auf denen die ganze menschliche Existenz in ihren Feinheiten beruht, der fast unerträglichen Schönheit des Lebens, nicht meines oder sonst jemandes, sondern des Lebens an sich, unabhängig von denen, die hineingeboren werden oder aus ihm scheiden. Ich sah meine Schwestern straucheln und taumeln, eine, die lügen, stehlen und betrügen lernte, und die andere, die vom Selbsthass zerstört wurde, die sich selbst in Stücke riss, bis sie nicht mehr wusste, wie man die Teile wieder zusammensetzt, aber ich hielt durch, Euer Ehren, ja, ich glaubte daran, irgendwie auserwählt zu sein, weniger beschützt als zu einer Ausnahme gemacht, erfüllt von einer Gabe, die mich unversehrt bewahrte, die aber bis zu dem Tag, an dem ich etwas daraus machen würde, nur ein Potential war, und im Lauf der Zeit, in den Tiefen meiner selbst, verwandelte sich dieser Glaube in ein Gesetz, und das Gesetz begann mein Leben zu beherrschen. Genau genommen, Euer Ehren, ist das die Geschichte, wie ich Schriftstellerin geworden bin.
Verstehen Sie mich richtig: Nicht dass ich frei von Selbstzweifeln gewesen wäre. Mein Leben lang haben mich die Zweifel verfolgt, eine nagende Unsicherheit und der damit einhergehende Hass, ein besonderer Hass, den ich nur gegen mich richtete. Manchmal standen sie in unbehaglichem Gegensatz zu meinem Gefühl der Auserwähltheit, kamen und gingen und verunsicherten mich,
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