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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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herrschte reglose Erstarrung, während der Schrei über uns hing wie die Frage am Ende aller Fragen, die das Ritual dieser besonderen, schicksalhaften Nacht in Erinnerung rufen sollte. Eine Frage, auf die es, da sie wortlos war, keine Antwort gab. Vielleicht war es nur eine Sekunde, doch in meinem Kopf ging der Schrei weiter, und irgendwo setzt er sich bis heute fort, aber dort, an jenem Abend, hörte er auf, als die Mutter aufsprang, dabei ihren Stuhl umwarf und in einer einzigen fließenden Bewegung zu dem Kind eilte, es in die Arme nahm und hochhob. Auf der Stelle beruhigte sich das Mädchen. Einen Augenblick kippte es den Kopf nach hinten und blickte zu seiner Mutter auf, und sein Gesicht begann zu leuchten vor Staunen und Erleichterung darüber, den einzigen, unendlichen Trost, den es auf der Welt gab, wiedergefunden zu haben. Es vergrub sein Gesicht am Hals der Mutter, im Duft ihres langen, glänzenden Haars, und sein Schreien wurde leiser und leiser, während die Unterhaltung wieder in Schwung kam, bis das Mädchen schließlich still wurde, an seine Mutter geschmiegt wie ein Fragezeichen – das war alles, was von der Frage übrig blieb, die sich vorerst erledigt hatte –, und einschlief. Das Essen ging weiter, und irgendwann stand die Mutter auf und trug den schlaffen Körper des schlafenden Kindes über den Flur in sein Zimmer zurück. Aber ich nahm die um mich her wieder anschwellenden Gespräche kaum wahr, so absorbiert war ich von dem Ausdruck, den ich soeben, bevor das Kind sein Gesicht im Haar der Mutter verbarg, aufleuchten gesehen hatte – ein Ausdruck, der mich mit Ehrfurcht erfüllte, mir aber auch einen Stich versetzte, denn in diesem Augenblick, Euer Ehren, wusste ich, das würde ich nie für jemanden sein, diejenige, die in einer einzigen Bewegung retten und Frieden bringen konnte.
    Auch S war angerührt von dem Erlebnis, und als wir abends nach Hause kamen, begann er wieder von einem eigenen Kind zu reden. Das Gespräch führte, wie jedes Mal, zu den alten Hindernissen, die ich gar nicht mehr genau beschreiben und benennen kann, außer dass wir beide uns darüber einig waren, worin sie bestanden, und dass sie, so wie wir sie identifiziert hatten, einer Lösung bedurften, ehe wir es verantworten konnten, unser Kind – das wir uns jeder für sich und beide zusammen vorstellten – auf die Welt zu bringen. Aber bezaubert von der Mutter und dem kleinen Mädchen, setzte sich S an diesem Abend stärker dafür ein. Wer weiß, vielleicht komme ja nie der richtige Moment, sagte er, doch trotz des Schmerzes, den der Ausdruck des Kindes in mir aufgerissen hatte, oder gerade deswegen, weil ich Angst hatte, hielt ich genauso stark dagegen. Wie leicht man alles vermasseln könne, sagte ich, das Kind zerstören, genau wie wir beide von unseren Eltern zerstört worden seien. Wenn wir eins in die Welt setzten, müssten wir bereit sein, insistierte ich, und wir seien nicht bereit, weit davon entfernt, und wie um den Beweis gleich mitzuliefern – es dämmerte schon, Schlafen kam nicht in Frage –, ging ich von ihm weg, schloss die Tür meines Arbeitszimmers und setzte mich an den Schreibtisch.
    Wie viele Diskussionen und schwierige Gespräche, ja sogar Momente großer Leidenschaft haben nicht im Lauf der Jahre so geendet? Ich muss arbeiten, waren stets meine Worte, wenn ich die Bettdecke abstreifte, mich von seinen Gliedern löste oder vom Tisch aufstand und im Gehen spürte, wie seine traurigen Augen mich verfolgten, wenn ich die Tür hinter mir schloss und an den Schreibtisch zurückkehrte, mich hinhockte, die Knie an die Brust zog und über meiner Arbeit brütete, mein Innerstes in diese Schubladen entleerte, neunzehn an der Zahl, manche groß und manche klein, wie leicht es war, mich in sie zu ergießen, was ich S gegenüber nie gekonnt oder auch nur versucht hatte, wie einfach, mich dort einzulagern; bisweilen vergaß ich ganze Teile meiner selbst, die ich für das Buch aufheben wollte, das ich eines Tages schreiben würde, mein großes Werk, in dem alles enthalten sein sollte. Stunden vergingen, der ganze Tag verging, plötzlich wurde es draußen dunkel, und dann war es so weit – ein vorsichtiges Klopfen an meiner Tür, das kleine Schlurfen seiner Hausschuhe, seine Hände auf meinen Schultern, die sich, ich konnte mir nicht helfen, unter seiner Berührung verspannten, seine Wange neben meinem Ohr, Nada, flüsterte er, so nannte er mich, Nada, komm heraus, komm heraus, wo immer du bist, bis er

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