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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Abend bei mir zu Hause liebten wir uns auf dem Flokati neben dem in der Dunkelheit fast über uns gebeugten Schreibtisch. Das ist ein eifersüchtiges Ungeheuer, scherzte ich und glaubte, ihn stöhnen zu hören, aber nein, es war nur S, der in diesem Moment vielleicht etwas vorhersah oder das Körnchen Wahrheit in dem Scherz erkannte: dass meine Arbeit immer über ihn siegen, mich zurücklocken, ihr großes schwarzes Maul aufreißen und mich hineinschlüpfen, mich tiefer und tiefer den Schlund hinuntergleiten lassen würde bis in den Bauch des Ungeheuers, wie ruhig es dadrinnen war, wie still. Trotzdem habe ich noch lange Zeit an die Möglichkeit geglaubt, mich meiner Arbeit zu widmen und mein Leben zu teilen, ich hielt es nicht für nötig, den anderen zu streichen, obwohl ich im Herzen vielleicht schon wusste, dass ich niemals gegen meine Arbeit Partei ergreifen würde, es ebenso wenig wollte oder konnte, wie gegen mich selbst Partei zu ergreifen. Nein, wenn man mich mit dem Rücken zur Wand vor die Wahl gestellt hätte, ich hätte mich nicht für ihn, nicht für uns entschieden, und S, der es von Anfang an geahnt hatte, sollte darüber nicht lange im Zweifel bleiben, ja schlimmer noch, denn ich wurde nie mit dem Rücken zur Wand gestellt, Euer Ehren, es war weniger dramatisch und dafür umso grausamer, wie ich nach und nach immer bequemer wurde, zu faul für die Anstrengung, deren es bedurft hätte, uns zu erhalten und zu bewahren, die Anstrengung, das Leben zu teilen. Zumal es kaum damit endet, dass man sich verliebt. Ganz im Gegenteil. Ich brauche Ihnen das nicht zu erzählen, Euer Ehren, ich spüre, dass Sie verstehen, was wahre Einsamkeit bedeutet. Wie man sich verliebt, und dann fängt die ganze Mühsal erst an: Tag für Tag, Jahr für Jahr muss man sich selbst ausgraben, den Inhalt von Geist und Seele exhumieren, damit der andere ihn sichten und dich kennenlernen kann, und du selbst musst ebenfalls Tage und Jahre damit verbringen, dich durch den Berg dessen zu wühlen, was er, allein für dich bestimmt, von sich ausgräbt, die Archäologie seines Seins studieren – wie anstrengend wurde das, dieses ewige Graben und Wühlen, während meine eigene, meine wahre Arbeit liegenblieb und auf mich wartete. Ja, ich dachte immer, ich hätte noch Zeit, wir hätten noch Zeit, auch mit dem Kind, das wir vielleicht eines Tages bekommen würden, hätte es noch Zeit, nur mit meiner Arbeit war es anders, da dachte ich nie, ich könnte sie beiseiteschieben wie meinen Mann oder die Idee unseres Kindes, eines kleinen Jungen oder Mädchens, die ich mir manchmal sogar vorzustellen versuchte, aber immer nur so vage, dass er oder sie ein geisterhafter Sendbote unserer Zukunft blieb, gerade einmal ihren Rücken, während sie mit Bauklötzen spielend auf dem Fußboden saß, oder seine Füße, zwei winzige Füße, die unter unserer Bettdecke hervorlugten. Aber egal, es war noch Zeit genug für sie, für jenes Leben, das sie verkörperten und das zu leben ich noch nicht bereit war, das warten musste, bis ich mit dem, was ich mir in diesem vorgenommen hatte, fertig war.
    Eines Tages, drei oder vier Jahre nachdem S und ich geheiratet hatten, waren wir zum Pessachfest bei einem Ehepaar eingeladen, das wir irgendwo kennengelernt hatten. Ich weiß nicht einmal mehr, wie sie hießen: Leute von der Art, die leicht in dein Leben eintreten und ebenso leicht wieder daraus verschwinden. Das Sederessen begann spät, die beiden kleinen Kinder waren schon im Bett, und wir – die ganze Schar der Gäste – schwatzten und scherzten, ungefähr fünfzehn Personen um einen langen Tisch, in der etwas verlegenen und so überaus witzigen Art von Juden, die eine Tradition pflegen, von der sie sich zu weit entfernt haben, um noch peinlich davon berührt zu sein, aber nicht weit genug, um sie aufzugeben. Plötzlich erschien ein Kind in diesem lärmerfüllten Raum voller Erwachsener. Wir waren alle so miteinander beschäftigt, dass es zuerst niemandem auffiel: ein Mädchen, höchstens drei Jahre alt, in einem Schlafanzug mit Füßen und durchhängendem Hosenboden, noch mit Windeln ausgestopft, das sich ein Tuch oder einen Lappen, vielleicht den Zipfel einer alten Decke, wie ich vermutete, an die Wange drückte. Wir hatten es aufgeweckt. Und auf einmal, verwirrt von diesem Meer fremder Gesichter und dem heillosen Gelärm, stieß es einen Schrei aus. Einen Schrei blanken Entsetzens, so schneidend, dass es schlagartig still im Zimmer wurde. Einen Augenblick

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