Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
Vom Netzwerk:
bis am Ende mein heimlicher Glaube an das, was ich war, immer die Oberhand gewann. Ich erinnere mich, wie ich damals, vor all den Jahren, fast zusammenfuhr, als die Möbelträger Daniel Varskys Schreibtisch durch die Tür brachten. Er war riesig, so viel größer, als ich ihn erinnerte, als wäre er gewachsen oder hätte sich vervielfältigt (waren es wirklich so viele Schubladen gewesen?), seit ich ihn zwei Wochen vorher in Varskys Wohnung gesehen hatte. Erst dachte ich, er würde nicht hereinpassen, und dann wollte ich nicht, dass die Träger wieder gingen, weil ich mich fürchtete, Euer Ehren, mit dem Schatten, den er ins Zimmer warf, allein zu bleiben. Es war, als wäre meine Wohnung plötzlich in Stille getaucht oder als hätte die Stille eine andere Qualität gewonnen, ähnlich der veränderten Stille einer leeren Bühne, nachdem jemand ein einziges glänzendes Instrument daraufgestellt hat. Ich fühlte mich überwältigt und hätte nur noch weinen mögen. Wie konnte man von mir erwarten, an einem solchen Tisch zu schreiben? Dem Schreibtisch eines großen Geistes, wie S gesagt hatte, als ich ihn Jahre später das erste Mal mit nach Hause nahm, womöglich – um Himmels willen! – sogar Lorcas Tisch? Wenn er umfiel, konnte er einen Menschen erschlagen. Meine Wohnung, die mir bis dahin klein erschienen war, kam mir jetzt winzig vor. Aber als ich zusammengekauert unter ihm hockte, erinnerte er mich aus irgendeinem Grund an einen Film, den ich einmal gesehen hatte, über das Elend der Deutschen in der Nachkriegszeit, wie sie hungerten und gezwungen waren, ihre Wälder abzuschlagen, um Brennholz zu haben und nicht zu erfrieren, wie sie, wenn keine Bäume mehr da waren, ihre Äxte gegen die Möbel schwangen – Betten, Tische, Schränke, Erbstücke aus dem Familienbesitz, nichts blieb verschont –, ja, plötzlich standen sie mir vor Augen, in Mäntel gewickelt, als hätten sie schmutzige Bandagen an, hackten sie alles kurz und klein, ließen Tischbeine und Stuhllehnen durch die Luft fliegen, während zu ihren Füßen schon ein gieriges kleines Feuer knisterte, und auf einmal kitzelte mich ein Lachreiz im Bauch: Stell dir vor, wie es so einem Tisch ergangen wäre. Sie hätten sich darauf gestürzt wie die Geier auf den Kadaver eines Löwen – was für ein Freudenfeuer wäre das gewesen, genug Holz für Tage! –, und jetzt begann ich tatsächlich laut zu glucksen, biss mir auf die Fingernägel, grinste praktisch über diesen armen, unmäßig großen Schreibtisch, der knapp daran vorbeigekommen war, zu Asche zu werden, der stattdessen zu den Höhen eines Lorca oder allermindestens eines Daniel Varsky aufgestiegen war und jetzt jemandem wie mir überlassen blieb. Ich fuhr mit den Fingern über die zerkratzte Oberfläche und befühlte liebevoll die Knäufe der vielen Schubladen, die sich unter die Zimmerdecke duckten, denn jetzt begann ich ihn in einem anderen Licht zu sehen, sein Schatten wirkte fast einladend. Komm, schien er zu sagen, wie ein unbeholfener Riese, der einer kleinen Maus seine Pranke hinhält, und kaum ist sie hineingehüpft, ziehen die beiden miteinander los, über Berg und Tal, durch Wiesen und Wälder. Ich schleifte einen Stuhl heran (ich kann mich noch genau an das Geräusch erinnern, ein langes Kratzen, das sich scharf in die Stille bohrte) und war überrascht, wie klein er vor dem Schreibtisch wirkte, eher ein Kinderstuhl oder einer für den Babybären aus der Geschichte von Goldlöckchen, sicher würde er zusammenbrechen, wenn ich mich darauf setzte, aber nein, er war gerade richtig. Ich legte meine Hände auf die Schreibfläche, erst eine, dann die andere, während sich die Stille auszudehnen, gegen Fenster und Türen zu drücken schien. Ich blickte auf, und ich spürte es, Euer Ehren, dieses heimliche, freudig erregte Beben, und da, entweder sofort oder sehr bald, mit der unabänderlichen Realität des Tisches, der das Erste war, was ich jeden Morgen, wenn ich die Augen aufschlug, sah, erneuerte sich in mir das Gefühl, ich besäße ein ganz eigenes, mir zuerkanntes Potential, eine besondere Fähigkeit, die mich von anderen unterschied und der ich verpflichtet war.
    Manchmal traten die Zweifel monate- oder gar jahrelang in den Hintergrund, kehrten dann aber mit einer Macht zurück, die mich bis zur Lähmung überwältigte. Eines Abends, anderthalb Jahre nachdem der Schreibtisch bei mir angekommen war, rief Paul Alpers an: Was machst du gerade?, fragte er, Pessoa lesen, sagte ich, obwohl ich

Weitere Kostenlose Bücher