Das große Haus (German Edition)
sein, zu schreiben oder auch zu reden – wie die Nonne, die vor mir ging und, in das Geheimnis Gottes gehüllt, durch eine Tür in der Wand verschwand, würde ich den Rest meiner Tage in der Fülle des Schweigens verbringen. Aber einen Moment später zerschellte die Illusion, und ich war nie weiter vom Ziel entfernt gewesen, nie hatte mein Versagen so atemberaubende Ausmaße gehabt. Ich hatte mich für etwas Besonderes gehalten, mich in Verbindung mit dem Wesen der Dinge geglaubt, nicht mit dem Geheimnis Gottes, das selbstverständlich verschlossen ist, aber – wie soll ich es nennen, Euer Ehren? – mit dem Geheimnis des Daseins, und doch entfaltete sich jetzt, während die Sonne herniederbrannte und ich, über holprige Pflastersteine stolpernd, durch die nächste schmale Gasse wankte, das wachsende Grauen der Vorstellung, ich könnte mich geirrt haben. Wenn dem so war, würden die Auswirkungen dieses Irrtums so verheerend sein, dass nichts unbeschädigt bliebe, die Säulen würden zusammenbrechen, das Dach einstürzen, eine gähnende Leere würde sich auftun und alles verschlingen. Verstehen Sie? Ich hatte mein Leben diesem Glauben geweiht, Euer Ehren. Ich hatte alle und alles dafür aufgegeben, und jetzt war er das Einzige, was mir noch blieb.
Es war nicht immer so gewesen. Es gab eine Zeit, da hatte ich mir mein Leben anders vorgestellt. Sicher, ich nahm schon früh die Gewohnheit an, lange Stunden allein zu verbringen. Ich entdeckte, dass ich Menschen nicht so brauchte wie andere. Wenn ich den ganzen Tag geschrieben hatte, kostete es mich eine Anstrengung, mich zu unterhalten, als müsste ich mich durch eine Schicht Zement arbeiten, und oft entschied ich mich einfach dagegen, aß lieber allein mit einem Buch im Restaurant oder unternahm lange Spaziergänge, entspannte mich in der Stadt vom täglichen Alleinsein. Aber Einsamkeit, wahre Einsamkeit ist etwas anderes, daran kann man sich unmöglich gewöhnen, und solange ich jung war, dachte ich mir meine Situation eher als einen vorübergehenden Zustand, immer begleitet von der Hoffnung und der Vorstellung, irgendwann einem Mann zu begegnen und mich zu verlieben, ein gemeinsames Leben mit ihm zu führen, jeder frei und unabhängig, aber durch die Liebe miteinander verbunden. Ja, es gab eine Zeit, in der ich mich noch nicht gegen andere abgeriegelt hatte. Als R mich damals verließ, habe ich es nicht verstanden. Was wusste ich schon von wahrer Einsamkeit? Ich war jung und erfüllt, strotzte vor Gefühlen, vor überschäumendem Verlangen; ich lebte näher an der Oberfläche meiner selbst. Eines Abends kam ich nach Hause und fand R zu einer Kugel zusammengerollt auf der Matratze. Als ich ihn berührte, zuckte sein Körper, und die Kugel zog sich zusammen. Lass mich allein, flüsterte er oder sagte es mit erstickter Stimme, die wie aus der Tiefe eines Brunnens klang. Ich liebe dich, sagte ich, indem ich ihm übers Haar strich, doch die Kugel rollte sich noch fester ein, wie der Körper eines verängstigten oder kranken Stachelschweins. Wie wenig habe ich ihn damals verstanden, wie wenig davon begriffen, dass es, je mehr man sich versteckt, umso notwendiger wird, sich zurückzuziehen, wie schnell es einem nicht mehr möglich ist, mit anderen zu leben. Ich versuchte mit ihm zu argumentieren, dachte in meiner Vermessenheit, meine Liebe könnte ihn retten, könnte ihm seinen eigenen Wert beweisen, wie schön und wie gut er war. Komm heraus, komm heraus, wo immer du bist, sang ich ihm ins Ohr, bis er eines Tages aufstand und ging, mit Sack und Pack und seinen ganzen Möbeln. Hat es da für mich begonnen? Die wahre Einsamkeit? Dass auch ich anfing, mich nicht mehr zu verstecken, sondern mich zurückzuziehen, ganz langsam, zuerst fast ohne es zu merken, in jenen stürmischen Nächten, die ich, bewaffnet mit dem kleinen Schraubenschlüssel, in Bereitschaft saß, aufzuspringen, um die Bolzen an den Fenstern festzuziehen, sie von innen dicht machte, damit der heulende Wind draußen blieb? Ja, womöglich war das der Anfang, oder so ungefähr, ich weiß es selbst nicht ganz genau, aber es dauerte Jahre, bis die Reise nach innen abgeschlossen war, bis ich alle Fluchtwege versiegelt hatte, erst folgten andere Lieben und andere Trennungen, dann die zehn Jahre meiner Ehe mit S. Als ich ihn kennenlernte, hatte ich schon zwei Bücher veröffentlicht, mein Leben als Schriftstellerin war gefestigt und desgleichen der Bund, den ich mit meiner Arbeit geschlossen hatte. An unserem ersten
Weitere Kostenlose Bücher