Das große Haus (German Edition)
ihrer Mutter gelernt hatten, wie diese ihnen aus der Bibel vorlas, die gesammelten Vogeleier auf dem Fensterbrett und wie der Junge in stürmischen Nächten zu seiner Schwester ins Bett kroch. Eine große Zeitschrift wollte die Geschichte drucken. Ich rief den Tänzer nicht an, bevor sie veröffentlicht wurde, noch schickte ich ihm ein Belegexemplar. Er hatte sie durchlebt, und ich benutzte sie, indem ich sie so ausschmückte, wie ich es für gut befand. In einem gewissen Licht betrachtet, ist das die Art, wie ich arbeite, Euer Ehren. Als mir ein erstes Exemplar der Zeitschrift geschickt wurde, fragte ich mich einen Augenblick, ob der Tänzer es mitbekommen und wie er sich wohl dabei fühlen würde. Aber ich verschwendete nicht viel Zeit mit dem Gedanken, sondern platzte vor Stolz, meine Arbeit in der illustren Aufmachung der Zeitschrift gedruckt zu sehen. Der Tänzer lief mir in der nächsten Zeit nicht über den Weg, und ich überlegte mir auch nicht, was ich ihm sagen würde, wenn doch. Zudem hörte ich auf, als die Geschichte einmal erschienen war, an die Mutter und ihre im Auto verbrannten Kinder zu denken, als hätte ich sie durch mein Schreiben zum Verschwinden gebracht.
Ich schrieb weiter. Ich schrieb einen weiteren Roman an Daniel Varskys Schreibtisch, und dann noch einen, der sich im Wesentlichen auf meinen im Vorjahr gestorbenen Vater bezog. Diesen Roman hätte ich nicht schreiben können, solange er am Leben war. Wäre er imstande gewesen, ihn zu lesen, hätte er sich mit Sicherheit verraten gefühlt. Gegen Ende seines Lebens hatte er die Kontrolle über seinen Körper verloren und war seiner Würde beraubt, dessen blieb er sich bis zu seinen letzten Tagen schmerzlich bewusst. In dem Roman habe ich diese Erniedrigungen lebhaft geschildert, sogar die Phase, als er sich einkotete und ich ihn sauber machen musste, ein Vorfall, den er so beschämend fand, dass er mir danach tagelang nicht in die Augen sehen konnte, und den er mich, hätte er sich irgend überwinden können, ihn auch nur zu erwähnen, selbstverständlich gebeten haben würde, nie einer Menschenseele zu erzählen. Aber ich beließ es nicht bei diesen quälenden, intimen Szenen, denen mein Vater, wäre er einen Augenblick frei von seinem Schamgefühl gewesen, vielleicht zugestanden hätte, dass sie weniger ihn zeigten als die universelle Misere des Älterwerdens und drohenden Todes – ich beließ es nicht dabei, sondern nutzte seine Krankheit und sein Leiden mit allen ihren ätzenden Details, und schließlich auch noch seinen Tod, als eine Gelegenheit, über sein Leben und insbesondere sein Versagen zu schreiben, als Mensch wie als Vater, ein Versagen, dessen genaue und reichhaltige Details nur ihm allein zugeschrieben werden konnten. In dünner Verkleidung (meistens durch Übertreibungen) führte ich quer über die Seiten des Romans seine Schwächen vor und meine bösen Ahnungen, das erhabene Drama meines jungen Lebens mit ihm. Ich lieferte Beschreibungen seiner aus meiner Sicht unverzeihlichen Verbrechen und verzieh ihm dann. Aber auch wenn letztendlich alles nur einem schwererrungenen Mitgefühl zuliebe war, auch wenn der Schlussakkord des Buchs in triumphierender Liebe und Trauer über seinen Verlust bestand, packte mich in den Wochen und Monaten vor dem Erscheinungstermin manchmal ein scheußliches Gefühl, das seine Schwärze über mich ergoss, ehe es vorüberging. In den publikumswirksamen Interviews betonte ich, der Roman sei Fiktion, und erklärte meinen Frust über Journalisten ebenso wie über Leser, die aus jedem Roman die Autobiographie seines Autors herauslesen wollen, als gäbe es nicht so etwas wie schriftstellerischen Erfindungsgeist, als bestünde die Arbeit eines Schriftstellers oder einer Schriftstellerin nur in beflissenen Aufzeichnungen und nicht in wüster Erfindung. Ich verteidigte die schriftstellerische Freiheit – ein Leben zu erschaffen, es zu ändern oder zu ergänzen, zu zerstören oder aufzubauen, ihm Bedeutung zuzuschreiben, es zu entwerfen, zu entwickeln, zu lieben, zu wählen, zu experimentieren und so weiter und so fort –, und ich zitierte Henry James, seine Worte über die «ungeheure Erweiterung» dieser Freiheit, eine «Offenbarung», wie er es nannte, deren sich unvermeidlich jeder bewusstwerde, der einen ernsthaften künstlerischen Versuch unternommen hat. Ja, während der auf meinem Vater beruhende Roman im ganzen Land zwar nicht massenhaft, aber doch in vielen Exemplaren über die Ladentische
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