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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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seine Arbeit verlangte ihm mehr Stunden ab als bisher, ja manchmal musste er sogar tagelang weg, auf Geschäftsreisen nach Berlin, London oder Tokio. Allein konnte ich mich in eine Art Stille verkriechen, an einen Ort ähnlich dem Sumpf, den die Kinder einmal gemalt hatten, wo sich Gesichter aus den Elementen erheben und wo alles still ist, wie im letzten Moment vor der Ankunft einer Idee, eine Ruhe und ein Frieden, die ich von jeher nur allein gefunden habe. Wenn S schließlich durch die Tür kam, fand ich das immer misslich. Aber mit der Zeit hat er es zu verstehen und zu akzeptieren gelernt und ging zuerst in irgendein Zimmer, in dem ich nicht war – in die Küche, wenn ich im Wohnzimmer war, ins Wohnzimmer, wenn ich im Schlafzimmer war –, wo er sich einige Minuten lang damit beschäftigte, seine Taschen auszuleeren oder das ausländische Wechselgeld in kleine schwarze Filmdosen zu sortieren, ehe er sich langsam dorthin bewegte, wo ich mich befand, und diese kleine Geste verwandelte meinen Missmut immer in Dankbarkeit.
    Als der dritte Satz zu Ende war, stellte ich die Stereoanlage ab, ohne den Rest zu hören, und ging in die Küche, um eine Suppe zu kochen. Beim Gemüseschneiden rutschte mir das Messer ab, es schnitt mir tief in den Daumen, und als ich aufschrie, hörte ich ein Double meines Schreis, den eines Kindes. Er schien von hinter der Wand zu kommen, aus der Wohnung nebenan. Ein Gefühl des Bedauerns überwältigte mich, so stechend, dass es mir im Bauch wehtat und ich mich setzen musste. Ich gestehe, dass ich sogar geweint habe, schluchzend, bis mir das Blut vom Finger auf die Bluse tropfte. Nachdem ich mich gefangen und den Schnitt mit Küchenpapier umwickelt hatte, ging ich hinaus und klopfte an die Tür meiner Nachbarin, einer alten Frau namens Mrs.   Becker, die allein lebte. Ich hörte sie langsamen Schrittes zur Tür schlurfen und dann, als ich sagte, wer da war, das geduldige Aufsperren mehrerer Riegel. Sie beäugte mich durch eine riesige schwarze Brille, eine Brille, die ihr irgendwie Ähnlichkeit mit einem kleinen Wühltier verlieh. Ja, meine Liebe, kommen Sie herein, wie nett, Sie zu sehen. Der uralte Essensgeruch war überwältigend, abertausend Küchendünste hingen in den Teppichen und Polstern, von Tausenden von Eintöpfen, mit denen sie ihr Leben gefristet hatte. Ich dachte, ich hätte eben einen Schrei von hier gehört. Einen Schrei?, fragte Mrs.   Becker. Es klang wie von einem Kind, sagte ich, indem ich an ihr vorbei in die dunklen Nischen ihrer Wohnung schielte, vollgestellt mit klauenfüßigen Möbeln, die erst, und unter großen Schwierigkeiten, von ihrem Platz verrückt werden würden, wenn sie einmal gestorben war. Manchmal gucke ich Fernsehen, aber nein, ich glaube nicht, dass der Fernseher an war, ich habe einfach hier gesessen und mir ein Buch angeschaut. Vielleicht kam das von unten. Mir geht es gut, meine Liebe, danke für Ihre Aufmerksamkeit.
    Ich erzählte niemandem, was ich gehört hatte, nicht einmal Dr.   Lichtman, die seit Jahren meine Therapeutin war. Und eine Zeitlang hörte ich das Kind auch nicht mehr. Aber die Schreie blieben bei mir. Manchmal vernahm ich sie plötzlich in mir, während ich schrieb, dann rissen alle Gedanken ab oder wirbelten durcheinander. Ich begann etwas Spöttisches herauszuhören, einen Unterton, den ich zuerst nicht wahrgenommen hatte. Andere Male hörte ich den Schrei im Moment des Erwachens, wenn ich mich aus dem Schlaf löste, und an solchen Tagen stand ich mit dem Gefühl auf, mir schnüre etwas den Hals ab. Ein unsichtbares Gewicht schien sich an die einfachsten Dinge zu hängen, die Teetasse, den Türknauf, das Wasserglas, zunächst kaum spürbar, jenseits des Bewusstseins davon, dass jede Bewegung eine Spur anstrengender war, aber wenn ich mich mit all diesen Kleinigkeiten herumgeschlagen hatte und mich endlich an den Schreibtisch setzte, waren meine Kraftreserven schon geschwunden oder verbraucht. Die Pausen zwischen den Wörtern wurden länger, das Momentum der Umsetzung des Denkens in Sprache fiel kurzfristig aus, und ein dunkler Fleck der Gleichgültigkeit erblühte. Ich glaube, dieses Phänomen hat mir in meinem Leben als Schriftstellerin am häufigsten zu schaffen gemacht, eine Art Entropie der Besorgnis oder ermattender Wille, so durchgängig, dass ich die Sache im Grunde kaum beachtet habe – der Zupfer einer Unterströmung von Sprachlosigkeit. Aber jetzt blieb ich oft in diesen Strömungen hängen, sie wurden tiefer und

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