Das große Haus (German Edition)
wanderte, pries ich die unvergleichliche Freiheit der Schriftstellerin, frei von Verantwortung, nichts und niemandem verpflichtet als ihren eigenen Gefühlen und Visionen. Vielleicht habe ich es nicht direkt gesagt, aber sicher zu verstehen gegeben, dass sie einem höheren Ruf folge, dem entsprechend, was man nur in der Kunst und in der Religion eine Berufung nennt, und sich nicht allzu viel um die Gefühle derer kümmern könne, deren Leben sie benutzt.
Ja, ich glaubte – vielleicht glaube ich es immer noch –, die Schriftstellerin dürfe sich nicht durch die möglichen Konsequenzen ihrer Arbeit einengen lassen. Sie sei nicht an irdische Wahrhaftigkeit oder Wahrscheinlichkeit gebunden. Sie sei weder eine Buchhalterin noch so etwas Lächerliches oder Abwegiges wie ein moralischer Wegweiser. In ihrer Arbeit sei die Schriftstellerin von Gesetzen befreit. Aber in ihrem Leben, Euer Ehren, ist sie nicht frei.
Einige Monate nachdem der Roman über meinen Vater erschienen war, ging ich draußen spazieren und kam in der Nähe des Washington Square Park an einer Buchhandlung vorbei. Aus Gewohnheit verlangsamte ich auf Höhe des Schaufensters, um zu sehen, ob mein Buch ausgestellt war. Im selben Moment sah ich den Tänzer drinnen an der Kasse, er sah mich, wir waren Auge in Auge. Eine Sekunde lang überlegte ich mir, schnell weiterzugehen, ohne mir genau darüber klar zu sein, warum ich mich so unwohl fühlte. Aber im nächsten Moment war die Gelegenheit schon vorbei; der Tänzer hob winkend die Hand, und mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten, bis er sein Wechselgeld bekommen hatte und herauskam, um mich zu begrüßen.
Er trug einen schönen Wollmantel und ein um den Hals gebundenes Seidentuch. Im Sonnenlicht sah ich, dass er älter war. Nicht viel, aber doch genug, dass man ihn nicht mehr jung nennen konnte. Ich fragte, wie es ihm gehe, und er erzählte mir von einem Freund, der wie so viele in jenen Jahren an Aids gestorben war. Er sprach über die kürzliche Trennung von seinem festen Partner, jemandem, den er noch nicht kannte, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, und über die bevorstehende Aufführung eines Stücks, an dem er als Choreograph mitwirkte. Obwohl fünf oder sechs Jahre vergangen waren, war ich immer noch mit S verheiratet und wohnte mit ihm in derselben West-Side-Wohnung. Äußerlich hatte sich nicht viel geändert, und als ich an der Reihe war, Neuigkeiten zu erzählen, sagte ich daher nur, es sei alles gut und ich schriebe noch. Der Tänzer nickte. Möglicherweise lächelte er sogar, ein natürliches Lächeln, eines von der Art, wie es mich mit meiner unerbittlichen Befangenheit immer etwas nervös und verlegen macht, weil ich selbst nie so gelassen, offen oder locker sein könnte. Ich weiß, sagte er. Ich lese alles, was Sie schreiben. Wirklich?, sagte ich überrascht und plötzlich erregt. Aber er lächelte wieder, und die Gefahr schien mir vorbei zu sein, die Geschichte würde unerwähnt bleiben.
Wir gingen gemeinsam ein paar Blocks in Richtung Union Square, so weit wie möglich, bis jeder einen anderen Weg nehmen musste. Beim Abschied beugte sich der Tänzer vor und entfernte einen Fussel von meinem Mantelkragen. Es war ein zärtlicher, fast intimer Moment. Ich habe es von der Wand genommen, wissen Sie, sagte er sanft. Was?, fragte ich. Nachdem ich Ihre Geschichte gelesen hatte, habe ich das Bild von meiner Wand genommen. Ich merkte, dass ich seinen Anblick nicht mehr ertragen konnte. Wirklich?, sagte ich, kalt erwischt. Warum? Zuerst habe ich mich selbst gefragt, sagte er. Es war mir fast zwanzig Jahre lang gefolgt, von Wohnung zu Wohnung, von Stadt zu Stadt. Aber nach einer Weile habe ich verstanden, was Ihre Geschichte mir plötzlich so klargemacht hatte. Und was war das?, wollte ich fragen, brachte es aber nicht heraus. Dann streckte der Tänzer, der zwar älter, jedoch immer noch lässig und voller Anmut war, seine Hand aus, klopfte mir mit zwei Fingern auf die Wange, drehte sich um und ging.
Auf meinem Weg nach Hause war ich erst verblüfft über seine Geste, dann ärgerte sie mich. Oberflächlich war sie leicht mit Zärtlichkeit zu verwechseln, doch je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr schien sie mir etwas Herablassendes zu haben, sogar als Demütigung gemeint zu sein. In meiner Vorstellung wurde das Lächeln des Tänzers immer weniger natürlich, und ich bekam zunehmend das Gefühl, er habe diese Geste jahrelang choreographiert, sie immer neu geschliffen und nur
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