Das große Haus (German Edition)
darauf gewartet, mich irgendwo zu treffen. Und war es verdient? Hatte er die Geschichte an jenem Abend nicht freiheraus erzählt, und nicht nur mir, sondern allen anwesenden Gästen? Hätte ich sie auf Schleichwegen entdeckt – heimlich seine Tagebücher oder Briefe gelesen, was ich, so wenig wie ich ihn kannte, unmöglich hätte tun können –, wäre es etwas anderes gewesen. Oder wenn er mir die Geschichte im Vertrauen erzählt hätte, erfüllt von immer noch schmerzlichen Gefühlen. Aber das war nicht der Fall. Er hatte sie uns mit demselben Lächeln und derselben Feierlichkeit serviert wie das Gläschen Grappa nach dem Essen.
Unterwegs kam ich an einem Spielplatz vorbei. Es war schon spätnachmittags, aber der kleine eingezäunte Platz war erfüllt vom kreischenden Getümmel der Kinder. Eine der vielen Wohnungen, in denen ich im Lauf der Jahre gelebt hatte, lag gegenüber einem Spielplatz auf der anderen Straßenseite, und mir war immer aufgefallen, dass die Kinderstimmen in der letzten halben Stunde vor der Dämmerung lauter zu werden schienen. Ich wusste nie, ob der Geräuschpegel der Stadt im schwindenden Licht ein Dezibel leiser oder ob die Kinder mit der Aussicht, dass ihre Zeit bald um sein würde, tatsächlich lauter geworden waren. Hin und wieder löste sich ein halber Satz oder ein helles Lachen aus dem Gewirr, und wenn ich das hörte, stand ich manchmal vom Schreibtisch auf, um die Kinder zu beobachten. Aber jetzt hatte ich keinen Blick für sie. Gänzlich eingenommen von meiner Zufallsbegegnung mit dem Tänzer, nahm ich sie kaum wahr, bis ein Schrei ertönte, qualvoll und entsetzt, ein gellender Kinderschrei, der mich zerriss wie ein Hilferuf an mich allein. Ich blieb schlagartig stehen und fuhr herum, sicher, ein übel zugerichtetes, aus großer Höhe abgestürztes Kind zu sehen. Aber da war nichts, nur die in Reigen oder Spielen hüpfenden und rennenden Kinder, ohne ein Zeichen, woher der Schrei gekommen war. Mein Herz raste, Adrenalin durchströmte mich, mein ganzes Wesen strebte danach, denjenigen, der diesen schrecklichen Schrei losgelassen hatte, zu retten. Aber die Kinder spielten ungestört weiter. Ich suchte die Gebäude oberhalb des Platzes ab, weil ich dachte, der Schrei sei vielleicht aus einem offenen Fenster gekommen, obwohl es November und so kalt war, dass man heizen musste. Eine Weile blieb ich an den Zaun geklammert stehen.
Als ich nach Hause kam, war S. noch nicht da. Ich legte Beethovens Streichquartett in a-Moll auf, ein Stück, das ich liebte, seit ein Freund aus der Collegezeit es mir in seinem Wohnheim zum ersten Mal vorgespielt hatte. Ich erinnere mich noch an die Knubbel seiner Wirbelsäule, als er sich über den Plattenspieler beugte und behutsam die Nadel herunterließ. Der dritte Satz ist eine so bewegende Passage wie kaum eine andere, die je geschrieben worden ist, und ich habe ihn immer mit dem Gefühl gehört, ich allein sei auf die Schultern irgendeines riesigen Geschöpfs gehoben worden, das mich durch die verkohlte Landschaft aller menschlichen Gefühle trüge. Wie fast bei jeder Musik, die mich tief berührt, habe ich ihn nie gehört, wenn andere in der Nähe waren, genau wie ich anderen kein Buch ausleihen würde, das ich besonders liebe.
Es beschämt mich, das einzugestehen, da ich weiß, dass es irgendeinen wesentlichen Mangel oder etwas Selbstsüchtiges in meiner Person verrät, und mir klar ist, dass es den Grundgefühlen der anderen, die ihre Leidenschaft für etwas am liebsten teilen, eine ähnliche Leidenschaft in anderen entzünden möchten, zuwiderläuft, ja dass ich selbst ohne den Nutzen eines so gearteten Enthusiasmus viele meiner Lieblingsbücher gar nicht kennen würde, was erst recht für die Musik gilt, nicht zuletzt für den dritten Satz des Opus 132, der mich an einem Frühlingsabend 1967 neue Kraft hatte fühlen lassen. Aber statt größere Freude zu empfinden, habe ich meine immer schwinden gefühlt, wenn ich jemand anderen teilhaben lassen wollte, es als Einbruch in die Intimität meiner Arbeit, als Eindringen in die Privatsphäre erlebt. Am schlimmsten ist es, wenn jemand nach einem Buch greift, das ich gerade begeistert gelesen habe, und beginnt, beiläufig die ersten Seiten durchzublättern. Schon das Lesen in jemand anderes Gegenwart kostete mich Überwindung, und ich glaube, ich habe mich nie wirklich daran gewöhnt, auch nicht nach jahrelanger Ehe. Aber damals hatte S eine Stelle als Buchungsmanager des Lincoln Center bekommen, und
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