Das große Haus (German Edition)
fast deren ganze Länge einnahm und die übrigen mickrigen Möbelstückchen in die äußerste Ecke drängte, wo sie wie unter dem Einfluss einer unheilvollen magnetischen Kraft zusammenzukleben schienen. Er bestand aus dunklem Holz, und über der Schreibfläche erhob sich ein Aufbau von Schubladen, Schubladen in absolut unpraktischen Größen, wie am Tisch eines mittelalterlichen Zauberers. Nur dass sie in ihrer ganzen Zahl ausnahmslos leer waren, etwas, was ich eines Abends entdeckt hatte, als ich auf Lotte wartete, während sie hinausgegangen war, um das Klosett im Flur zu benutzen, und was den Tisch, das Gespenst dieses wuchtigen Tisches, wirklich eher ein Schiff als ein Tisch, ein Schiff auf stockfinsterem Meer in der Tiefe einer mondlosen Nacht, ohne Hoffnung, irgendwo Land zu sichten, noch entnervender erscheinen ließ. Es war, das habe ich immer so empfunden, ein sehr männlicher Tisch. Bisweilen oder von Zeit zu Zeit überkam mich sogar eine Art seltsame, unerklärliche Eifersucht, wenn ich zu ihr ging, um sie abzuholen, sie die Tür aufmachte, und da, bedrohlich hinter ihr lauernd, als wollte er sie fressen, dieser furchterregende Möbelkörper stand.
Eines Tages wagte ich zu fragen, wo sie ihn aufgetrieben habe. Sie war arm wie eine Kirchenmaus; unvorstellbar, dass sie je in der Lage gewesen wäre, genug Geld zu sparen, um sich einen derartigen Tisch zu kaufen. Aber statt meine Ängste zu zerstreuen, stürzte mich ihre Antwort in Verzweiflung: Es sei ein Geschenk, sagte sie. Und als ich, um einen beiläufigen Ton bemüht, aber schon mit jenem Zucken in den Lippen, das mich immer befällt, wenn Gefühle mich überwältigen, danach fragte, von wem, bedachte sie mich mit einem Blick, den ich nie vergessen werde, da er meine erste Einführung in die komplexen Gesetze war, die das Leben mit Lotte beherrschten, wobei es Jahre dauern sollte, bis ich diese Gesetze verstand, wenn ich sie denn je richtig verstanden habe, einen Blick, der dem Hochziehen einer Mauer gleichkam. Es erübrigt sich zu sagen, dass zu diesem Thema kein Wort mehr fiel.
Tagsüber arbeitete sie im Untergeschoss der British Library, wo sie Bücher einsortierte, und nachts schrieb sie. Seltsame und oft verstörende Geschichten, die sie, wie ich annahm, für mich bestimmt offen liegen ließ. Zwei Kinder, die ein drittes Kind ums Leben bringen, weil sie seine Schuhe begehren, und erst nachdem es tot ist merken, dass die Schuhe nicht passen, sie darum an ein anderes Kind verhökern, dem sie passen und das sie mit Freude trägt. Eine Familie, die alles verloren hat und auf einer Fahrt durch ein ungenanntes Land im Krieg zufällig die feindlichen Linien überquert, dort ein leeres Haus entdeckt und sich darin niederlässt, ohne die grauenhaften Verbrechen seines früheren Eigentümers wahrzunehmen.
Sie schrieb natürlich auf Englisch. In all den Jahren unseres Zusammenlebens habe ich sie nur einige wenige Male etwas auf Deutsch aussprechen hören. Sogar nachdem ihr Alzheimer fortgeschritten war und ihre Sprache den Zusammenhang verlor, fiel sie nicht, wie viele andere, in die Laute ihrer Kindheit zurück. Manchmal dachte ich, ein Kind hätte ihr vielleicht einen Weg eröffnet, an ihre Muttersprache anzuknüpfen. Aber wir bekamen kein Kind. Von Anfang an hat Lotte klargemacht, dass diese Möglichkeit ausgeschlossen sei. Ich hatte mir immer vorgestellt, ich würde eines Tages Kinder haben, aber vielleicht nur, weil ich das für den selbstverständlichen Lauf der Dinge hielt; ich glaube nicht, dass ich mir je ein richtiges Vaterbild ausgemalt habe. Bei den wenigen Gelegenheiten, die ich ergriff, um Lotte auf das Thema anzusprechen, zog sie unverzüglich eine Mauer hoch, für deren Abtrag ich Tage brauchte. Sie hatte sich nicht zu erklären oder ihre Position zu verteidigen; ich hätte es begriffen haben müssen. (Dabei erwartete sie nicht etwa Verständnis von mir. Lotte begnügte sich auf phänomenale Art und Weise damit, in einem Dauerzustand des Missverständnisses zu leben. Das ist, wenn man es recht bedenkt, eine so seltene Eigenschaft, dass man sie fast der Psyche eines höherentwickelten Menschen zuschreiben könnte.) Ich habe mich schließlich mit der Idee eines Lebens ohne Kinder abgefunden, und ich kann nicht bestreiten, dass ich teilweise auch ein bisschen erleichtert war. Obwohl ich es später, als die Jahre vergingen und so wenig hinzukam, es kaum etwas in unserem Leben gab, das wuchs und sich veränderte, manchmal bedauerte, dass ich
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