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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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erinnerte. Nein, es war etwas anderes. Vielleicht gefiel ihr der Anblick einfach. Was es auch gewesen sein mag, ich sah sofort, wie eingenommen sie von diesem Ort war. Wir gingen den kleinen, von Unkraut überwucherten Weg entlang zum Eingang. Eine Frau mit strenger Miene ließ uns nach einigem Zögern ein – wie sich herausstellte, war sie die Tochter einer alten Frau, einer Töpferin, die jahrelang in dem Haus gelebt hatte, aber zu gebrechlich geworden war, um länger allein dort zu bleiben. Es herrschte ein muffiger, medizinischer Geruch, und die Decke im Flur war von schweren Wasserschäden demoliert, als hätte sich ein fehlgeleiteter Sturzbach darüber ergossen. In einem Zimmer, das vom Flur abging, sah ich flüchtig den Rücken einer weißhaarigen Frau im Rollstuhl.
    Meine Mutter hatte mir eine kleine Erbschaft hinterlassen, die es mir knapp ermöglichte, das Haus zu kaufen. Vor allen anderen Dingen, die zu tun waren, strich ich die Dachstube, die Lottes Arbeitszimmer werden sollte. Sie hatte sich diesen Raum selbst ausgesucht, aber ich gebe zu, ich war erleichtert über die Vorstellung, dass der Schreibtisch dort oben unters Dach verbannt sein würde, fernab vom Rest des Hauses. Sie wählte ein einheitliches Taubengrau für Wände und Fußboden, und von dem Tag an, als ich mit dem Streichen fertig war, bis sie zu krank wurde, um die Treppe allein hinaufzugehen, habe ich die Dachstube gemieden. Nicht wegen des Schreibtisches, natürlich, sondern aus Respekt vor ihrer Arbeit und ihrer Privatsphäre, ohne die sie nicht überlebt hätte. Sie brauchte eine Zuflucht, auch vor mir. Wenn ich etwas von ihr wollte, stand ich unten an der Treppe und rief hinauf. Wenn ich ihr eine Tasse Tee machte, stellte ich sie unten auf die Stufen.
    Ungefähr ein Jahr nach unserem Umzug verkaufte Lotte ihre erste Erzählsammlung, Zerbrochene Fenster, an einen kleinen Verlag in Manchester, der sich experimenteller Literatur verschrieben hatte (ein Etikett, das ihr widerstrebte, aber nicht genug, um das Angebot einer Veröffentlichung auszuschlagen). Das Buch enthielt keinerlei Hinweis auf Deutschland. Das Einzige, was Lotte zuließ, war eine Erwähnung ihres Geburtsortes und -jahres in der Kurzbiographie auf der letzten Seite – Nürnberg, 1921. Aber ziemlich weit hinten vergraben gab es eine Geschichte, die von den Gräueln zeugte. Sie handelte von einem Landschaftsarchitekten in einem ungenannten Land, einem so von sich und seinem Talent eingenommenen Egoisten, dass er zur Kollaboration mit den höchsten Stellen des brutalen Regimes im Land bereit ist, um einen großen Park, den er entworfen hat, nahe dem Zentrum der Hauptstadt verwirklichen zu können. Er gibt Bronzebüsten in Auftrag, jedes Bildnis nach den faschistischen Idealen gestaltet, und verstreut sie zwischen den seltenen und tropischen Pflanzen. Er benennt eine Palmenallee nach dem Diktator. Als die Geheimpolizei beginnt, mitten in der Nacht die Leichen ermordeter Kinder in den Parkanlagen zu vergraben, drückt er ein Auge zu. Aus dem ganzen Land strömen Menschen herbei, um die riesigen Blüten zu schauen und die ungewöhnliche Schönheit seines Werks zu bewundern. Der Titel der Geschichte war «Kinder sind schrecklich für Gärten» – Worte, mit denen der Landschaftsarchitekt viele Jahre zuvor eine junge Journalistin abgekanzelt hatte, die ihren Gegenstand offensichtlich liebte –, und nachdem ich sie gelesen hatte, habe ich mich noch lange Zeit dabei erwischt, wie ich meine Frau mit etwas furchtsamen Gefühlen anstarrte.
     
    An jenem Abend, als Daniel das erste Mal auftauchte, hörte ich die Eingangstür erst gut nach Mitternacht auf- und wieder zugehen. Es dauerte noch eine weitere Viertelstunde, bis Lotte nach oben kam. Ich lag schon im Bett. Ich beobachtete, wie sie sich im Dunkeln auszog. Die Enthüllung ihres Körpers zweimal am Tag war eine der großen Freuden meines Lebens. Sie schlüpfte unter die Decke. Ich streckte meinen Arm aus und legte meine Hand auf ihren Oberschenkel. Ich wartete, dass sie etwas sagte, aber sie sagte nichts. Stattdessen legte sie sich auf mich. Alles schweigend, aber die Art, wie sie ihren Kopf herunterbeugte, um meinen zu berühren, hatte etwas besonders Zärtliches. Danach schliefen wir ein. Am nächsten Morgen hing ein Rest von Zigarettenrauch in der Küche, doch sonst konnte ich nichts Ungewöhnliches bemerken. Ich fuhr nach Oxford, und über Daniel wurde nicht mehr gesprochen.
    Aber als ich am Donnerstagabend nach Hause

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