Das große Haus (German Edition)
entschuldigte mich höflich, sagte, ich müsse noch etwas arbeiten, und ging nach oben. Als ich über die Schulter zurückblickte, empfand ich einen Stich des Bedauerns über das Kind, das wir nie bekommen hatten, eines, das jetzt ungefähr in Daniels Alter sein könnte, das wie er aus der Kälte hereinkäme, voller Sachen, die es uns zu erzählen gäbe.
Ich bin noch nie auf den Gedanken gekommen, aber jetzt fällt mir auf, dass es Ende November war, als Daniel an diesem Winterabend 1970 bei uns geklingelt hat, dieselbe Jahreszeit, um die Lotte siebenundzwanzig Jahre später starb. Ich weiß nicht, was Ihnen das sagen soll; eigentlich nichts, außer dass Symmetrien, die wir im Leben finden, etwas Tröstliches haben, weil sie einen Plan suggerieren, wo keiner ist. Der Abend, an dem Lotte zum letzten Mal das Bewusstsein verlor, scheint mir heute weiter entfernt als der Juninachmittag 1949, an dem ich sie zum ersten Mal sah. Es war auf einem Gartenfest zur Feier der Verlobung von Max Klein, einem engen Freund aus meiner Studentenzeit. Hübscher und erlesener hätte es nicht sein können, mit der Kristallschüssel für die Bowle und Vasen voller frischgeschnittener Iris. Aber fast schon beim Hereinkommen spürte ich etwas Seltsames im Raum, etwas wie einen Bruch in der ansonsten einheitlichen Atmosphäre oder Stimmung. Ich fand die Quelle ohne Schwierigkeit. Es war eine kleine Frau, wie ein Spatz, mit kurzem schwarzem, über dem Gesicht gerade abgeschnittenem Haar, die an der Flügeltür zum Garten stand. In Widerspruch zu allem, was um sie war. Angefangen damit, dass es Sommer war und sie ein violettes Samtkleid, fast kittelförmig, trug. Ihr Haarschnitt war vollkommen anders als der aller anderen Frauen dort, so etwas wie ein Bubikopf, aber eher aus praktischen Gründen denn um des Stiles willen so geschnitten. Sie trug einen sehr großen Silberring, der zu schwer für ihre knochigen Finger schien (sehr viel später, als sie ihn abzog und auf meinen Nachttisch legte, bemerkte ich, dass er einen Abdruck von Grünspan auf ihrer Haut hinterließ). Aber was mich wirklich als höchst ungewöhnlich verblüffte, war ihr Gesicht, oder der Ausdruck in ihrem Gesicht. Es erinnerte mich an Prufrock – Es wird Zeit sein, ein Gesicht vorzubereiten auf die anderen Gesichter, die du triffst –, weil sie die Einzige in diesem Raum zu sein schien, die keine Zeit gehabt oder nicht daran gedacht hatte, sich Zeit zu nehmen. Nicht dass ihr Gesicht offen oder irgendwie vielsagend gewesen wäre. Es schien nur einfach im Ruhezustand, vollkommen selbstvergessen, während die Augen alles aufnahmen, was vor ihnen geschah. Was ich zuerst für ein Unbehagen gehalten hatte, das von ihr ausging, schien mir jetzt, während ich sie vom anderen Ende des Raums aus betrachtete, genau das Gegenteil zu sein: das Unbehagen anderer, das an ihr gemessen zutage trat. Ich fragte Max, wer sie sei, und er sagte mir, sie sei irgendwie verwandt, eine entfernte Cousine seiner Verlobten. Ein leeres Glas in der Hand, blieb sie während des ganzen Festes wie angewurzelt auf demselben Fleck. Irgendwann ging ich hinüber und bot ihr an, es neu zu füllen.
Zu dieser Zeit wohnte sie zur Miete in einem Zimmer nicht weit vom Russell Square entfernt. Die andere Straßenseite war bombardiert worden, und aus ihrem Fenster sah man die Trümmerhaufen, wo die Kinder manchmal Räuber und Gendarm spielten (lange nach Einbruch der Dunkelheit hörte man noch ihre Stimmen), und hier oder dort die Mauern eines Hauses, dessen leere Fenster den Himmel einrahmten. In einem ragte nur noch die Treppe mit geschnitzten Geländern aus dem Schutt, anderswo erkannte man die in Sonne und Regen langsam verbleichenden Blumenmuster der Tapete. Trotz der Melancholie, die sich damit verband, hatte es auch einen seltsamen Reiz, das Innere so nach außen gekehrt zu sehen. Oft sah ich Lotte auf diese Ruinen mit ihren einsamen Schornsteinen starren. Als ich zum ersten Mal in ihr Zimmer kam, hat es mich überrascht, wie wenig darin war. Sie lebte damals schon fast zehn Jahre in England, aber außer ihrem Schreibtisch gab es kaum richtige Möbel, und viel später habe ich verstanden, dass die Wände und die Decke ihres Zimmers für sie in gewisser Weise ebenso wenig existierten wie die auf der anderen Straßenseite.
Ihr Schreibtisch dagegen war etwas vollkommen anderes. In dem bescheidenen kleinen Zimmer überschattete er alles Sonstige wie ein groteskes, bedrohliches Monstrum, das, an die Wand gerückt,
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