Das große Haus (German Edition)
mich nicht stärker dafür eingesetzt hatte – Schritte auf der Treppe, eine unbekannte Größe, ein Vermittler.
Aber nein: Unser Zusammenleben war schützend rund um die Beständigkeit des Alltäglichen organisiert; ein Kind da hineinzuwerfen hätte alles zerschlagen. Bei jeder Störung unserer Gewohnheiten gingen Lotte die Nerven durch. Ich versuchte sie vor dem Unerwarteten zu bewahren; die kleinste Abweichung von unseren Plänen warf sie vollkommen um. Der ganze Tag ging damit verloren, die angerichteten Scherben einzusammeln und wieder etwas Ruhe einkehren zu lassen. Ich brauchte mehr als ein Jahr, bis ich sie überzeugt hatte, ihr schäbiges Zimmer mit dem Trümmerblick aufzugeben und zu mir nach Oxford zu ziehen. Natürlich bat ich sie, mich zu heiraten. Ich nahm mir sogar eine größere Wohnung in einem College-eigenen Haus, sehr komfortabel, mit Kaminen im Wohn- und im Schlafzimmer und einem großen Fenster, aus dem man auf den Garten sah. Als der Tag des Umzugs endlich kam, holte ich sie in ihrem Zimmer ab. Außer dem Schreibtisch und den spärlichen Möbeln passte alles, was sie besaß, in ein paar ramponierte Koffer, die schon an der Tür standen. Außer mir vor Freude in der Aussicht auf ein gemeinsames Leben, voller Hoffnung, dass wir diesen leidigen Tisch zum letzten Mal gesehen haben würden, küsste ich ihr Gesicht, dieses Gesicht, das mich immer, wenn ich es sah, so überglücklich machte. Sie lächelte zu mir auf. Ich habe einen Lastwagen organisiert, der den Schreibtisch morgen nach Oxford bringt, sagte sie.
Wie durch ein Wunder, ein Wunder, das je nach Perspektive auch ein Albtraum sein konnte, brachten die Träger es fertig, sich durch die schmalen Gänge und Treppen des Hauses zu lavieren, stöhnend vor Anstrengung, unter ständigem Gebrüll obszöner Flüche, die mit der kühlen Herbstbrise durchs offene Fenster in das Zimmer drangen, wo ich saß, in Angst und Schrecken wartend, bis ich schließlich ein Rumsen an der Tür hörte und er da war, auf dem Treppenabsatz gelandet, ein rachsüchtiges Ungetüm, dunkel schimmernd, fast schwarz wie Ebenholz.
Kaum hatte ich Lotte nach Oxford geholt, merkte ich, dass es ein Fehler gewesen war. Am ersten Nachmittag stand sie mit ihrem Hut in den Händen da und schien nicht zu wissen, wie sie vorgehen sollte. Was brauchte sie einen gemauerten Kamin oder dicke Polsterstühle? Mitten in der Nacht fand ich ihr Bett leer und entdeckte sie mit ihrem Mantel über dem Arm im Wohnzimmer. Als ich sie fragte, wohin sie wolle, senkte sie erstaunt den Blick auf ihren Mantel und gab ihn mir. Dann brachte ich sie wieder ins Bett und strich ihr übers Haar, bis sie einschlief, genau wie vierzig Jahre später, als sie alles vergaß, und danach starrte ich, wach an die Kissen gelehnt, in die Schatten des Zimmers, wo der Tisch Stellung bezogen hatte wie ein trojanisches Pferd.
Eines Samstags, kurz darauf, fuhren wir nach London, um mit meiner Tante zu Mittag zu essen. Anschließend machten wir beide einen Spaziergang ins Heath. Es war ein sonniger Herbsttag, alles von Licht durchflutet. Während wir den Park durchquerten, erzählte ich Lotte von einer Idee zu einem Buch über Coleridge, die mir gerade durch den Kopf ging. Im Kenwood House legten wir eine Teepause ein, danach zeigte ich Lotte das späte Selbstporträt von Rembrandt, das ich als kleiner Junge zum ersten Mal gesehen hatte und das sich für mich mit dem Ausdruck «ein ruinierter Mann» verband – ein Ausdruck, der sich in meinem kindlichen Gemüt so festgesetzt hatte, dass er, glorifiziert, zum Inbegriff meines eigenen Bestrebens geworden war. Als wir das Heath verließen, nahmen wir die nächste Abbiegung und landeten zufällig in Fitzroy Park. Etwas weiter auf dem Weg nach Highgate Village kamen wir an einem Haus vorbei, das zum Verkauf stand. Es war in schlechtem Zustand, verwahrlost und von allen Seiten zugewachsen, das ganze Anwesen versank im Gestrüpp. Auf dem Spitzdach über der Tür hockte die furchterregende Fratze eines seltsamen Wasserspeiers. Lotte stand davor und schaute hinauf, indem sie sich auf eine Art die Hände rieb, wie sie es manchmal tat, wenn sie nachdachte, als läge der Gedanke in ihren Händen und sie müsse ihn nur noch polieren. Ich beobachtete sie, wie sie das Haus betrachtete. Ich dachte, vielleicht erinnere es sie an irgendwo, wenn nicht gar an ihr Zuhause in Nürnberg; als ich sie besser kannte, begriff ich, wie abwegig diese Vermutung war – sie vermied alles, was sie
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