Das große Haus (German Edition)
sich zurückzuziehen. In diesem Moment war ein Bruch oder eine Öffnung da. Einen Augenblick früher, und die beruhigend, wiedergutmachend gemeinte Geste fachte ihre Wut nur wieder an. Einen Augenblick später, und sie hatte sich schon in sich verkrochen und die Tür zugemacht, um sich für einen unbegrenzten Aufenthalt in dieser Dunkelkammer einzurichten, wo sie Tage oder gar Wochen ohne ein Wort für mich überdauern konnte. Ich habe viele Jahre gebraucht, bis es mir gelang, den richtigen Moment zu erspüren, bis ich gelernt hatte, ihn kommen zu sehen und zu ergreifen, sobald er da war, um uns beide vor diesem strafenden Schweigen zu bewahren.
Sie kämpfte mit ihrer Traurigkeit, versuchte sie aber zu verbergen, sie in immer kleinere Stückchen zu zerteilen und diese an Geheimplätze zu verstreuen, wo sie glaubte, dass niemand sie finden würde. Aber oft fand ich welche – mit der Zeit hatte ich gelernt, wo ich suchen musste – und setzte sie so gut ich konnte wieder zusammen. Es tat mir weh, dass sie das Gefühl hatte, sich damit nicht an mich wenden zu können, aber ich wusste, es würde sie noch mehr verletzen, wenn sie erführe, dass ich Dinge entdeckt hatte, die nicht für mich bestimmt waren. Irgendwie, glaube ich, wollte sie grundsätzlich nicht gekannt werden, sie lehnte es ab. Oder nahm es übel, selbst wenn sie sich danach sehnte. Es störte ihr Freiheitsgefühl. Aber man kann einen Menschen, den man liebt, nicht einfach müßig betrachten, sich nicht damit begnügen, ihn staunend anzuschauen. Es sei denn, man ist glücklich mit reiner Verehrung, und das war ich nie. Im Kern besteht die Arbeit jedes Wissenschaftlers, egal auf welchem Gebiet, in der Suche nach Mustern. Sie mögen denken, es erscheine ziemlich kalt, wenn ich andeuten wolle, dass ich eine wissenschaftliche Haltung gegenüber meiner Frau einnahm, aber ich glaube, dann haben Sie eine falsche Vorstellung von dem, was einen echten Wissenschaftler treibt. Je mehr ich in meinem Leben gelernt habe, umso intensiver habe ich meinen Hunger und meine Blindheit gespürt, mich zugleich aber auch dem Ende meines Hungers, dem Ende meiner Blindheit einen Schritt näher gefühlt. Manchmal glaubte ich, über dem Abgrund zu hängen – wieso, kann ich kaum sagen, ohne dass ich fürchten müsste, lächerlich zu klingen –, und fand mich dann, nur abgerutscht, tiefer denn je in dem Loch wieder. Aber selbst dort, in der Finsternis, entdeckte ich in mir noch eine Form der Lobpreisung all dessen, was unnachgiebig an meiner Gewissheit rüttelt.
Es ist für dich, sagte ich zu Lotte, wandte mich aber nicht um. Meine Augen blieben auf Daniel geheftet, und so verpasste ich ihren Gesichtsausdruck, als sie ihn das erste Mal sah. Später habe ich mich gefragt, ob er überhaupt irgendetwas verraten hätte. Daniel ging auf sie zu. Einen Moment schienen ihm die Worte zu fehlen. Ich sah etwas in seinem Gesicht, was ich vorher nicht gesehen hatte. Dann stellte er sich, wie erwartet, als einer ihrer Leser vor. Lotte bat ihn herein, oder weiter herein. Ich durfte ihm seine Jacke abnehmen, aber die Aktentasche hielt er krampfhaft fest – ich vermutete ein Manuskript darin, das er Lotte zeigen wollte. Die Jacke roch abscheulich nach Eau de Cologne, obgleich Daniel selbst, soweit ich sagen konnte, ohne die Jacke nach nichts roch. Lotte führt ihn in die Küche, und während er ihr folgte, schaute er sich nach allem um, den Bildern an unseren Wänden, den Briefen, die postfertig auf dem Tisch lagen, und als sein Blick auf sein eigenes Bild im Spiegel fiel, glaubte ich den Anflug eines Lächelns zu gewahren. Lotte winkte ihn an den Küchentisch, und er setzte sich hin, wobei er die Aktentasche behutsam zwischen seine Füße stellte, als befände sich ein lebendiges kleines Tier darin. Seiner Art, Lotte dabei zu beobachten, wie sie den verbeulten Kessel mit Wasser füllte und auf den Herd setzte, konnte ich entnehmen, dass er weiter gekommen war, als er sich hatte träumen lassen. Vielleicht hatte er gehofft, im besten Fall mit einem signierten Buch wieder zu gehen. Und jetzt war er im Haus der großen Schriftstellerin! Eingeladen zum Tee aus ihren Tassen! Ich weiß noch, dass ich mir dachte, vielleicht sei dies genau die richtige Aufmunterung, die Lotte brauchte: Sie sprach wenig über ihre Arbeit, wenn sie mittendrin steckte, aber an ihrer Stimmung merkte ich genau, wie es lief, und sie machte schon seit einigen Wochen einen lustlosen und deprimierten Eindruck. Ich
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