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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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solchen Essen hörte ich Lotte die Geschichte erzählen, wie auf der St. Giles’ vor ihren Augen eine Frau von einem Bus angefahren wurde. In der einen Sekunde überquerte sie die Straße, sagte sie dann mit anschwellender Stimme, und in der nächsten lag sie von den Rädern eines Busses hingeschleudert da. Es ist ein Verbrechen, fuhr Lotte regelmäßig fort, wie diese Kinder in die Welt geschickt werden, die Köpfe vollgestopft mit Platon und Wittgenstein, ohne ihnen den geringsten Sinn dafür zu vermitteln, wie man sich gegen die Gefahren des täglichen Lebens schützt. Das war ein seltsames Argument für eine Frau, die ihre Tage meistens eingeschlossen in ihrem Arbeitszimmer verbrachte, damit beschäftigt, Geschichten zu erfinden und Wege zu suchen, um sie glaubwürdig zu machen. Aber aus Höflichkeit wies nie jemand darauf hin.
    Die Wahrheit war natürlich komplizierter. Lotte liebte ihr Leben in London – liebte die Anonymität, in die sie eintauchen konnte, sobald sie in Covent Garden oder King’s Cross aus der Untergrundbahn stieg, was in Oxford unmöglich gewesen wäre. Sie liebte das Schwimmloch und unser Haus in Highgate. Und ich glaube, sie liebte es auch, allein zu sein, während ich abwesend war und die handverlesene Sammlung der langhaarigen Jugend aus Winchester und den glanzvollen Häusern von Eton unterrichtete. Donnerstagabends holte sie mich mit dem Auto an der Paddington Station ab, wo sie mit beschlagenen Fenstern und laufendem Motor auf mich wartete. In den ersten Minuten der Heimfahrt durch die dunklen Straßen, während ihr in meinen Augen noch die Klarheit eines eigenständigen Menschen anhing, spürte ich manchmal die Ruhe einer neuen Geduld in ihr – vielleicht für unser gemeinsames Leben, oder für etwas anderes.
    Ja, Lotte war mir ein Geheimnis, aber ich tröstete mich mit den kleinen Inseln, die ich in ihr entdeckte, Inseln, die ich auch unter den schlechtesten Bedingungen immer finden und benutzen konnte, um mich zu orientieren. Im Mittelpunkt ihrer selbst stand ein abgrundtiefer Verlust. Mit siebzehn Jahren war sie gezwungen worden, ihre Heimatstadt Nürnberg zu verlassen. Ein ganzes Jahr hatte sie mit ihren Eltern in einem Transitlager in Zbąszyń an der polnischen Grenze gelebt – die grauenhaften Verhältnisse dort kann ich mir nur vorstellen; sie sprach nie über diese Zeit, genau wie sie nur selten über ihre Kindheit oder über ihre Eltern sprach. Im Sommer 1939 verhalf ihr ein junger jüdischer Arzt, der ebenfalls in dem Lager war, zu einem Visum, um einen Kindertransport von sechsundachtzig Kindern nach England zu begleiten. Dieses Detail, sechsundachtzig, hat mich immer tief beeindruckt, sowohl weil die Geschichte, wie sie von Lotte erzählt wurde, so wenige Details hatte, als auch wegen der unerhörten Zahl. Wie konnte sie sich in dem Wissen, dass gerade alles, was sie kannte, alles, was die Kinder je gekannt hatten, für immer verlorenging, um so viele von ihnen kümmern? Das Schiff legte von Gdynia ab und fuhr über die Ostsee. Die Reise dauerte fünf Tage statt der vorgesehenen drei, weil unterdessen der Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet wurde und das Schiff um Dänemark herumfahren musste. Sie erreichten Harwich drei Tage bevor der Krieg ausbrach. Die Kinder wurden über das ganze Land verstreut in Pflegefamilien untergebracht. Lotte wartete ab, bis auch das letzte von ihnen auf einen Zug gesetzt war. Dann waren alle fort, davongefahren, und Lotte verschwand in ihr Leben.
    Nein, ich konnte unmöglich wissen, was sie in der Tiefe mit sich herumtrug. Aber langsam entdeckte ich gewisse Punkte, an denen ich Fuß fassen konnte. Wenn sie im Schlaf laut schrie, hatte sie fast immer von ihrem Vater geträumt. Wenn sie sich durch etwas verletzt fühlte, was ich gesagt, getan oder meistens zu tun oder zu sagen unterlassen hatte, wurde sie plötzlich besonders freundlich, aber eine Art geglättete Freundlichkeit, wie wenn zwei Menschen auf einer Busfahrt, einer langen Fahrt, zufällig nebeneinandersitzen und nur der eine daran gedacht hat, etwas zu essen mitzunehmen. Ein paar Tage später passierte etwas Belangloses – ich vergaß, eine Teedose wieder ins Regal zu stellen, oder ließ meine Socken auf dem Boden liegen –, und sie explodierte. Die Heftigkeit und das Ausmaß ihres Zorns waren schockierend, und mir blieb als einzige mögliche Antwort, mich ganz still zu ducken und den Kurs des Schweigens durchzuhalten, bis das Schlimmste vorüber war und sie begann, sich in

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