Das große Haus (German Edition)
von so einem Vater?
Ich schrieb Joav einen Zettel, den ich auf seinem Tisch hinterließ, erpicht darauf, das Haus zu verlassen, bevor ich Weisz in die Arme lief. Draußen nieselte es noch, der Nebel hing tief und schwer, und bis ich die Station erreichte, war die Feuchtigkeit durch den Mantel gezogen, den meine Mutter mir geschenkt hatte. Ich nahm die U-Bahn nach Marble Arch und von dort den Bus nach Oxford. Sobald ich meine Zimmertür aufgeschlossen hatte, überfiel mich eine erdrückende Traurigkeit. Fern von Joav nahm mein Leben in Belsize Park die ungewisse Qualität eines Theaterstücks an, dessen Bühne abgebaut werden konnte und die Truppe aufgelöst, während die Heldin in Straßenkleidung allein im dunklen Saal zurückblieb. Ich kroch unter die Decke und schlief stundenlang. Joav rief weder an diesem noch am nächsten Tag an. Da ich nicht wusste, was ich tun sollte, schleppte ich mich ins Phoenix und sah mir zweimal hintereinander Der Himmel über Berlin an. Es war dunkel, als ich die Walton Street entlang nach Hause ging. Ich wartete auf das Klingeln des Telefons und schlief darüber ein. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen, und um drei Uhr morgens wurde ich mit knurrendem Magen wach. Alles, was ich fand, war ein Riegel Schokolade, der mich noch hungriger machte.
Drei Tage lang klingelte das Telefon nicht. Ich schlief oder hockte starr in meinem Zimmer oder schleifte mich ins Phoenix, wo ich stundenlang vor der flimmernden Leinwand saß. Ich versuchte, das Denken auszuschalten, und ernährte mich von Popcorn und Süßigkeiten, die ich bei dem nicht neugierigen Anarchopunker kaufte, der den Getränkestand bediente, dankbar, einen Menschen anzutreffen, nach dessen Prinzipien es recht und billig war, sich die Tage allein im Kino zu vertreiben. Oft schenkte er mir etwas Süßes oder gab mir eine große Limonade statt der kleinen, die ich bezahlt hatte. Wenn ich wirklich geglaubt hätte, die Sache mit Joav sei gelaufen, wäre ich in einer weit schlechteren Verfassung gewesen. Nein, was mir zu schaffen machte, war das quälende Warten, die Klemme zwischen dem Ende eines Satzes und dem Anfang des nächsten, der wer weiß was bringen würde oder nicht, einen Hagelsturm, einen Flugzeugabsturz, poetische Gerechtigkeit oder eine wundersame Wende.
Irgendwann endlich klingelte das Telefon. Ein Satz endet, und immer beginnt ein anderer, nur nicht immer dort, wo der letzte aufgehört hat, nicht unbedingt kontinuierlich unter den alten Bedingungen. Komm wieder, sagte Joav in einem Ton, der fast ein Flüstern war. Bitte komm zu mir zurück. Als ich die Tür in Belsize Park aufschloss, war alles dunkel. Ich erblickte sein Profil im bläulichen Schein des Fernsehers. Er schaute sich einen Film von Kie´slowski an, den wir mindestens zwanzig Mal zusammen gesehen hatten. Es war die Szene, in der Irène Jacob unbekannterweise bei Jean-Louis Trintignant auftaucht, um ihm seinen Hund zu bringen, den sie mit dem Auto angefahren hat, und bemerkt, dass der alte Mann die Telefone seiner Nachbarn abhört. Was waren Sie , fragt sie angewidert, ein Bulle? Schlimmer , sagt er, ein Richter . Ich glitt neben Joav auf die Couch, und er zog mich wortlos an sich. Er war allein im Haus. Später erfuhr ich, dass Leah in New York war, ihr Vater hatte sie dorthin geschickt, um einen Schreibtisch zurückzuholen, nach dem er vierzig Jahre lang gesucht hatte. In der Woche ihrer Abwesenheit bumsten Joav und ich im ganzen Haus, auf jedem erdenklichen Möbelstück. Er sagte nichts mehr über seinen Vater, aber es lag eine Gewalt in der Art, wie er mich begehrte, und ich wusste, dass etwas Schmerzliches zwischen ihnen vorgefallen war. Eines Nachts wachte ich plötzlich mit dem Gefühl, ein leiser Schatten sei über uns gehuscht, aus meinem immer leichten Schlaf auf, und als ich die Treppe hinunterschlich und im Flur das Licht anknipste, stand Leah da mit dem seltsamsten Ausdruck im Gesicht, dem ich je begegnet war, als hätte sie die ausfransenden Seile, die uns irgendwo Halt gegeben hatten, endgültig zerschnitten. Wir hatten sie unterschätzt, aber niemand so sehr wie ihr Vater.
ZWEI
Wahre Güte
Wo bist du, Dov? Der Morgen dämmert schon. Weiß Gott, was du da draußen treibst, zwischen Gräsern und Nesseln. Jetzt wirst du jeden Augenblick an dem mit Kletten bedeckten Tor erscheinen. Zehn Tage haben wir zusammen unter einem Dach gelebt wie seit fünfundzwanzig Jahren nicht, und du hast kaum etwas gesagt. Nein, stimmt nicht. Es gab den einen
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