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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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der mich früher aus dem Bett vor den offenen Kühlschrank trieb, um mich vollzustopfen. Dieser Appetit, den deine Mutter biblisch nannte, ist mir längst vergangen. Jetzt wache ich aus anderen Gründen auf. Schwache Blase. Rätselhafte Schmerzen. Mögliche Herzattacken. Schlaganfälle. Und immer finde ich dein Bett leer und ordentlich gemacht. Ich lege mich wieder hin, und wenn ich morgens aufstehe, egal wie früh, finde ich deine Schuhe aufgereiht neben der Tür und deine lange graue Gestalt über den Tisch gebeugt. Dann hüstele ich, damit wir von vorn beginnen können.
    Hör zu, Dov. Das werde ich nicht zweimal sagen: Unsere Zeit läuft ab, meine und deine. Wie elend dein Leben auch sein mag, dir wird noch einige Zeit bleiben. Du kannst damit machen, was du willst. Sie damit verschwenden, den Wald zu durchwandern und die Kotspur eines Wühltiers zu verfolgen. Ich nicht. Ich nähere mich rasch dem Ende. Und ich werde weder in Gestalt von Zugvögeln oder Pollenstaub zurückkehren noch als irgendeine hässliche, minderwertige, meinen Sünden gerechte Kreatur. Alles, was ich bin, alles, was ich war, wird sich zu Erdkruste verhärten. Und du wirst damit alleingelassen sein. Allein mit dem, was ich war, was wir waren, und allein mit deinem Schmerz, der keine Aussicht auf Linderung mehr haben wird. Also denk darüber nach. Denk lange und gründlich. Denn wenn du nur gekommen bist, um bestätigt zu finden, was du schon immer über mich gedacht hast, ist dir der Erfolg gewiss. Ich werde dir sogar helfen, mein Junge. Genau der Scheißkerl sein, für den du mich immer gehalten hast. Wohl wahr, das fällt mir leicht. Wer weiß, vielleicht befreit es dich sogar von den letzten Resten an Bedauern. Aber täusch dich nicht: Während ich vollständig gefühllos in einem Loch begraben liege, wirst du ein Nachleben in Schmerzen weiterleben.
    Aber du weißt das alles, nicht wahr? Ich spüre doch, dass du deswegen gekommen bist. Es gibt Dinge, die du mir sagen willst, bevor ich sterbe. Also raus damit. Halt es nicht zurück. Was hindert dich? Mitleid? Ich sehe es in deinen Augen: Bei jedem Flug mit meinem Aufzugstuhl sehe ich deinen Schock über meine Schrumpfung. Das Monster deiner Kindheit von so etwas Banalem wie einer Treppenflucht geschlagen. Und doch, ich muss nur meinen Mund auftun, und schon huscht dein Mitleid wieder unter den Felsen, aus dem es hervorgekrochen war. Es bedarf nur ein paar ausgewählter Worte, um dir in Erinnerung zu rufen, dass ich allem Schein zum Trotz immer noch dasselbe arrogante, begriffsstutzige Arschloch bin, das ich von jeher war.
    Hör zu. Ich will dir einen Vorschlag machen. Lass mich ausreden, dann kannst du ja oder nein sagen, wie es dir beliebt. Was hältst du von einem vorübergehenden Waffenstillstand, so lange, wie es dauert, bis jeder seinen Teil gesagt hat, du deinen und ich meinen? Damit wir einander anhören, wie wir es nie getan haben, einander anhören, ohne abzuwehren oder um uns zu schlagen, einen Augenblick aussetzen mit Gift und Galle? Einmal sehen, wie es sich anfühlt, die Position des anderen einzunehmen? Vielleicht wirst du sagen, es sei zu spät für uns, die Zeit für Mitgefühl sei längst vorbei. Und vielleicht hättest du recht, aber wir haben nichts mehr zu verlieren. Auf mich lauert der Tod schon an der nächsten Ecke. Wenn wir die Dinge lassen, wie sie sind, bin ich nicht derjenige, der den Preis bezahlen wird. Ich werde ein Nichts sein. Nichts mehr hören, nichts mehr sehen, nichts mehr denken, nichts mehr fühlen. Vielleicht findest du, dass ich auf dem Offensichtlichen herumreite, aber ich würde wetten, du verbringst nicht viel Zeit damit, über den Zustand des Nichtseins nachzudenken. Früher hast du es vielleicht getan, aber das ist lange her, und wenn es einen Gedanken gibt, den der Geist nicht erträgt, ist es der seiner eigenen Nichtigkeit. Die Buddhisten mögen ihn ertragen, die tantrischen Mönche, aber nicht die Juden. Die Juden, die so viel aus dem Leben gemacht haben, wussten nie, was sie mit dem Tod beginnen sollten. Frag einen Katholiken, was passiert, wenn er stirbt, und er wird dir die Höllenkreise ausmalen, das Fegefeuer, die Vorhölle, die Tore des Himmels. Der Christ hat den Tod so vollständig bevölkert, dass er keinen Bedarf mehr hat, sich das Gehirn überhaupt noch mit dem Ende seiner Existenz zu vernebeln. Aber frag einen Juden, was passiert, wenn er stirbt, und du wirst das ganze Elend eines Menschen sehen, der sich allein damit herumschlagen

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