Das große Haus (German Edition)
spärlicher Rest war dünn und ausgebleicht, von der hohen, glatten Stirn zurückgekämmt. Nein, die Last seines Erbes war in den Gesichtern seiner Kinder nicht leicht zu erkennen.
Zufrieden mit Leahs Antworten, wandte Weisz sich Joav zu und fragte ihn nach den Vorbereitungen für seine Prüfungen. Joav antwortete fließend und geschliffen, als rezitierte er etwas, was er in Erwartung einer solchen Befragung vorbereitet hätte. Wie Leah war er außerordentlich bemüht, seinem Vater zu versichern, es sei alles bestens und könne nicht besser sein, keinerlei Grund, sich aufzuregen oder zu besorgen. Ich konnte nur staunen, was ich zu hören bekam. Ich wusste genau, dass Joav seinen Tutor für einen arroganten Aufschneider hielt und dass der Tutor umgekehrt drohte, Joav zu verwarnen und auf die Bewährungsliste zu setzen, wenn er nicht einen greifbaren Beweis für seine Arbeit erbringe. Er log mit Überzeugungskunst, ohne eine Spur von schlechtem Gewissen, und ich fragte mich, ob er fähig wäre, mich notfalls genauso zu belügen. Aber schlimmer noch, während ich Weisz beobachtete, wie er sich hungrig, den Löffel zwischen seinen krummen langen Fingern, die Suppe in den Mund schaufelte, erfüllten mich plötzlich Schuldgefühle wegen der Lügen, die ich meinen eigenen Eltern erzählt hatte. Nicht nur über die wundervollen Dinge, die ich angeblich in Oxford machte, sondern auch darüber, dass ich überhaupt dort sei. Im Wissen um die konstitutionelle Unfähigkeit meines Vaters, sich irgendeinen Spartrick entgehen zu lassen, hatte ich eine Methode erfunden, mit einer Spezialkarte billig in die USA zu telefonieren. Auf diese Weise hatte ich es arrangiert, dass nicht mehr sie jeden Sonntag bei mir anriefen, sondern ich bei ihnen. Sie waren Gewohnheitstiere, und ich wusste, sie würden ein Ritual nur durchbrechen, wenn etwas nicht stimmte. Zur Sicherheit hörte ich jeden Abend meinen Anrufbeantworter in der Little Clarendon Street ab. An sie denkend, während ich Weisz gegenübersaß, wie sie jeden Sonntagmorgen ängstlich am Telefon gewartet haben mussten, meine Mutter auf ihrem Posten in der Küche und mein Vater im Schlafzimmer, empfand ich ein nagendes Bedauern und Traurigkeit.
Schließlich wischte sich Weisz den Mund ab und wandte sich mir zu. Ein Rinnsal Schweiß lief mir die Brust hinunter. Und Sie, Isabel? Was studieren Sie? Literatur, sagte ich. Ein merkwürdiges Lächeln huschte über seine blutleeren Lippen. Literatur, wiederholte er, als versuchte er, einem Namen, den er von früher kannte, ein Gesicht zuzuordnen.
In der nächsten Viertelstunde fragte Weisz mich nach meinen Studien aus, danach, woher ich und meine Eltern stammten und warum ich nach England gekommen sei. So zumindest formulierte er seine Fragen, aber in Wirklichkeit (glaubte ich jedenfalls) waren die Worte aus seinem Mund nur ein Kode für etwas anderes, was er lüften wollte. Ich kam mir vor, als versuchte ich einen Test zu bestehen, dessen Beurteilungskriterien mir verborgen wurden, und indem ich verzweifelt um die richtigen Antworten rang, merkte ich, wie ich mit jeder phantastischen Ausschmückung der Wahrheit die Liebe und Hingabe meiner Eltern noch mehr mit Füßen trat. Ich hatte meine Eltern angelogen, und jetzt log ich über sie. Weisz nahm die Gestalt ihres Vertreters an, des bestellten Anwalts der Armen und Unterdrückten, denen man nicht zutrauen kann, sich selbst zu verteidigen. Während wir sprachen, entrückten die ganzen traurigen und edlen Möbel, die im Zimmer standen, die bayrische Uhr aus Großvaters Zeiten und der Marmortisch, ja sogar Joav und Leah, und in dem kalten hohlen Raum blieben nur Weisz und ich sowie, irgendwo über unseren Köpfen schwebend, meine gekränkten und verletzten Eltern. Er macht Schuhe?, fragte Weisz. Was für Schuhe? Der Beschreibung nach, die ich von den Geschäften meines Vaters lieferte, war es nicht abwegig zu glauben, Manolo Blahnik komme auf Knien zu meinem Vater gekrochen, wenn er jemanden für die Anfertigung seiner extravaganten, komplizierten Designs brauchte. In Wahrheit produzierte mein Vater die Einheitsschuhe für Nonnen und katholische Schulmädchen in Harlem. Während ich fortfuhr, die Tüchtigkeit meines Vaters zu übertreiben, ihn mit Ruhm und Ehren überzog, kam mir eine Erinnerung in den Sinn – ein Nachmittag in der alten Fabrik meines Großvaters, die mein Vater weitergeführt hatte, bis sie auf Grund gelaufen und ihm nichts anderes übriggeblieben war, als ein Mittelsmann
Weitere Kostenlose Bücher