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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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studierte er die Knöpfe am Jackett seines Vaters.
    Ich wollte gerade aufbrechen, um einen Bus nach Oxford zu erwischen, sagte ich. Um diese Zeit? Weisz hob die Augenbrauen. Draußen regnet es in Strömen. Ich bin sicher, mein Sohn wird so nett sein, Ihnen ein Bett zu richten, nicht wahr, Joav?, sagte er, ohne mich aus den Augen zu lassen. Vielen Dank, aber ich sollte wirklich gehen, sagte ich, denn inzwischen hatte ich jedes Interesse daran verloren, dazubleiben und mich standfest zu zeigen. Vielmehr musste ich einen Fluchtimpuls unterdrücken, an Weisz vorbei und zur Tür hinaus, zurück in die Welt der Straßenlaternen, Autos und Londoner Zebrastreifen im Regen. Ich habe morgen Vormittag einen Termin, log ich. Dann nehmen Sie einen frühen Bus, sagte Weisz. Ich schielte zu Joav, Hilfe suchend oder zumindest eine Anleitung, wie ich mich da herauswinden könnte, ohne Schaden anzurichten. Aber er mied meinen Blick. Auch Leah war von irgendetwas an ihrem Ärmelaufschlag absorbiert. Es macht mir wirklich nichts aus, heute Abend zu fahren, sagte ich, aber es war nur noch ein schwacher Protest, vielleicht, weil ich mittlerweile fürchtete, unhöflich zu erscheinen, oder weil ich zu spüren begann, wie schwierig es war, sich ihrem Vater zu verweigern.
    Wir setzten uns ins Wohnzimmer – Joav und ich auf Stühle mit hoher Rückenlehne, Weisz auf ein helles, seidenbezogenes Sofa. Der Spazierstock mit dem Silberknauf, ein Widderkopf mit gerollten Hörnern, ruhte auf dem Kissen neben ihm. Joavs Blick blieb unverwandt auf seinen Vater gerichtet, als verlangte dessen Gegenwart sein ganzes Augenmerk und seine volle Konzentration. Weisz schenkte Leah ein mit Bändern umwickeltes Päckchen. Sie öffnete es, und dabei fiel ein silbriges Kleid heraus. Probier es an, drängte Weisz. Sie trug es über den Arm drapiert hinaus. Als sie wiederkam, eine schlanke Gestalt in einem schimmernden, Licht reflektierenden Etwas, trug sie ein Tablett mit einem Glas Orangensaft und einer Schale Suppe für ihren Vater auf der Hand. Gefällt es dir?, fragte Weisz. Na, Joav? Sieht sie nicht schön aus? Leah lächelte dünn und küsste ihren Vater auf die Wange, aber ich wusste, sie würde es nie tragen, sondern es mit all den anderen Kleidern, die ihr Vater gekauft hatte, hinten in den Kleiderschrank verbannen. Es kam mir seltsam vor, dass Weisz, wo er doch so genau über das Leben seiner Tochter informiert schien, noch nicht begriffen hatte, wie wenig sie sich für seine extravaganten Kleider interessierte, Kleider für ein Leben, das sie gar nicht führte.
    Während er aß, stellte Weisz seinen Kindern Fragen, auf die sie beflissen antworteten. Er wusste von Leahs bevorstehendem Konzert und dass sie gerade an der Transkription einer Bachkantate von Liszt arbeitete. Auch dass ihr Klavierlehrer, ein Russe, der Evgeny Kissin unterrichtet hatte, beurlaubt und durch einen anderen ersetzt worden war. Er fragte nach dem neuen Lehrer, wo er herkomme, ob er gut sei, ob sie ihn möge, und hörte sich die Antworten mit einer Ernsthaftigkeit an, die mich erstaunte – hörte, so schien es, unter der Voraussetzung zu, falls die Antworten seiner Tochter nicht weniger als deren vollständige Zufriedenheit enthielten, würde er die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, als wäre er mit einem einzigen Telefongespräch, einer angedeuteten Drohung in der Lage, dem armen neuen Lehrer seinen Rauswurf zu bescheren und dem abgereisten Russen, der sich in Südfrankreich von einem Zusammenbruch erholte, eine Zwangsverpflichtung zur Rückkehr in den Dienst. Leah versicherte ihrem Vater mit den größten Lobesworten, wie hervorragend der neue Lehrer sei. Als er nach ihren Plänen fürs Wochenende fragte, sagte sie, ihre Freundin Amalia habe sie zu einer Geburtstagsparty eingeladen. Aber ich hatte noch nie von einer Amalia gehört und es in der ganzen Zeit, die ich im Haus verbracht hatte, nicht erlebt, dass Leah je zu einer Party gegangen wäre.
    Seine langgezogenen, hängenden Gesichtszüge hatten wenig mit denen seiner Kindern gemeinsam. Und sollte es einmal mehr gewesen sein, war es durch alles, was ihm im Leben widerfahren war, bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Seine Lippen waren dünn, die wässrigen Augen verschleiert, die Adern an seinen Schläfen knotig und blau. Nur die Nase stimmte überein, lang, mit denselben hohen, gewölbten und immer aufgeblähten Nasenlöchern. Ob Leah und Joav ihr kastanienbraunes Haar von ihm hatten, konnte man unmöglich sagen: Sein

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