Das große Haus (German Edition)
muss. Verloren und verwirrt. Ein blinder Wanderer. Denn der Jude mag über alles in der Welt gesprochen haben, er mag alles erforscht, Reden geschwungen, seine Meinung über den Äther geschickt, argumentiert und sich endlos ausgebreitet, den letzten Fetzen Fleisch vom Knochen jeglicher Frage genagt haben, nur darüber, was passiert, wenn er stirbt, hat er sich weitestgehend ausgeschwiegen. Er hat einfach akzeptiert, darüber nicht zu diskutieren. Er, der sonst keine Unklarheiten duldet, hat akzeptiert, dass die wichtigste aller Fragen im Sumpf einer nebulösen, verschwommenen Grauzone steckenbleibt. Verstehst du die Ironie? Die Absurdität? Was hilft eine Religion, die sich von der Frage abwendet, was passiert, wenn das Leben endet? Da ihm eine Antwort versagt geblieben ist – und er gleichzeitig als Volk dazu verdammt ist, seit Jahrtausenden einen mörderischen Hass in anderen zu wecken –, hat der Jude keine andere Wahl, als täglich mit dem Tod zu leben. Mit ihm zu leben, sich in seinem Schatten häuslich einzurichten und seine Bedingungen nicht zu diskutieren.
Wo war ich stehengeblieben? Ich bin aufgeregt, habe den Faden verloren, siehst du, wie ich vor Wut schäume? Aber warte, ja. Mein Vorschlag. Was sagst du, Dov? Oder lass es, sag nichts. Ich nehme dein Schweigen als ein Ja.
Komm. Lass mich anfangen. Siehst du, mein Kind, ein klein wenig verfalle ich jeden Tag in Betrachtungen über meinen Tod. Ich erkunde ihn. Tunke sozusagen den Zeh ins Wasser. Weniger um mich praktisch darauf einzustellen, als um ihn zu hinterfragen, solange ich noch fragen und die Vergessenheit ergründen kann. Bei einem dieser Streifzüge ins Unbekannte habe ich etwas über dich entdeckt, was mir fast entfallen war. In den ersten drei Jahren deines Lebens wusstest du nichts vom Tod. Du dachtest, alles würde endlos weitergehen. Als du aus dem Gitterbettchen herausgewachsen warst und das erste Mal in einem richtigen Bett schlafen durftest, kam ich dir gute Nacht sagen. Schlafe ich jetzt ewig wie ein großer Junge?, fragtest du. Ja, sagte ich, und wir blieben still: ich mit einem Bild vor Augen, wie du an deine Bettdecke geklammert durch die Hallen der Ewigkeit fliegst, und du mit dem vor Augen, was immer sich ein Kind unter der Ewigkeit vorstellen mag. Ein paar Tage später saßest du am Tisch und spieltest mit dem Essen, das du nicht essen wolltest. Dann lass es, sagte ich, aber solange du nicht isst, stehst du auch nicht vom Tisch auf. So einfach ist das. Deine Lippe begann zu zittern. Nur zu, meinetwegen schlaf am Tisch, sagte ich. Mama macht das aber nicht so, wimmertest du. Was kümmert es mich, wie sie das macht, versetzte ich, ich mache es so, und du bewegst dich nicht, bis du gegessen hast! Du brachst in Tränen aus und machtest protestierend weiter. Ich ignorierte dich. Nach einer Weile herrschte Schweigen in der Küche, nur unterbrochen von deinem gelegentlichen Winseln. Und auf einmal, aus dem Nichts, erklärtest du: Wenn Joella stirbt, bekommen wir einen Hund. Ich war überrascht. Weil es so unverblümt herauskam und weil ich nicht auf die Idee gekommen wäre, dass du irgendetwas über den Tod wüsstest. Wärst du nicht traurig, wenn sie stirbt?, fragte ich, den Krieg um das Essen einen Augenblick vergessend. Und du antwortetest, sehr praktisch: Doch, dann hätte ich ja keine Katze mehr zum Streicheln. Ein Augenblick verging. Wie sieht es aus, wenn Menschen sterben?, fragtest du. Als würden sie schlafen, sagte ich, nur dass sie nicht atmen. Du dachtest darüber nach. Sterben Kinder auch?, fragtest du. Ich spürte, wie in meiner Brust ein Schmerz aufriss. Manchmal, sagte ich. Vielleicht hätte ich ein anderes Wort wählen sollen. Nie , oder einfach nein . Aber ich wollte dich nicht belügen. Wenigstens das kannst du mir zugutehalten. Dann wandtest du mir dein Gesichtchen zu und fragtest ohne Zucken: Werde ich sterben? Bei diesen Worten aus deinem Mund erfüllte mich ein nie gekannter Schrecken, Tränen brannten mir in den Augen, aber statt zu sagen, was ich hätte sagen sollen: Irgendwann in langer, langer Zeit, oder: Du nicht, mein Kind, du allein wirst ewig leben, sagte ich einfach: Ja. Und da du, egal wie du gelitten hast, in deinem tiefsten Inneren noch ein Tier warst wie jedes andere, das leben, die Sonne fühlen und frei sein will, sagtest du: Aber ich will nicht sterben. Die schreckliche Ungerechtigkeit erfüllte dich. Und du schautest mich an, als wäre ich dafür verantwortlich.
Du würdest dich wundern, wie
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