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Das große Leuchten (German Edition)

Das große Leuchten (German Edition)

Titel: Das große Leuchten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Stichmann
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bewegen kann – und bin im Dunkeln, während der Junge hinter mir den Flur durchquert. Denn es wäre wirklich nicht in Ordnung gewesen, ihn so zu erschrecken, nicht so und nicht jetzt – es hätte mir auch die Chance auf eine friedliche Einigung verspielt. Schließlich will ich es mir nicht grundsätzlich verscherzen mit den Eltern, schließlich will ich erst mal fair bleiben und einen Kompromiss anbieten: Mein Name ist Rupert, und ich komme zunächst als Freund. Versteht meine Lage, gebt mir etwas Geld, dann gehe ich wieder, und zwar in Frieden.
    Aber als ich mich grade umdrehe, als ich grade zurückwill, um die Sache zu besprechen, sacken meine Beine weg, und ich komme überhaupt nicht mehr hoch.
    Das Schmerzgefühl ist wieder da.
    Es schießt mir in den Kopf.
    Und ich muss mich auf den Bauch drehen und mit den Händen vorwärtsziehen, ich muss zum Sofa robben, weil meine Beine nicht mehr gehorchen.
    Und ziehe das Sofa ein bisschen zu mir ran. Krieche langsam in den Winkel.
    Denke in dieser Position, dass es wohl der einzig richtige Platz ist im Moment. Weil er ruhig ist und weil er vorläufig vollkommen zu mir passt. Mit den gebrauchten Taschentüchern und den Flusen.
    Wo ich hingehöre.

    Noch einmal höre ich die Stimme der Mutter, danach nichts mehr, weil die beiden wahrscheinlich ins Bett gegangen sind. Was traurig ist, denn jetzt sind sie endgültig nicht mehr zu erreichen. Andererseits wird es morgen einen neuen Tag geben, sage ich mir, ja, morgen werde ich dann umso klarer und aufgeräumter hinter dem Sofa vorkommen. Ich werde mich an den Frühstückstisch setzen und meine Situation erklären. Und vielleicht wird es so sein, dass die Zeit unmerklich vergeht, dass plötzlich schon zwei Wochen vergangen sind. Dass ich wieder und wieder Frühstück mache und Kaffee eingieße und dass die Mutter mich vielleicht noch mal irritiert ansieht für einen Moment, aber nach einer gewissen Zeit eben nicht mehr, weil es dann selbstverständlich geworden ist.
    Ja, vielleicht werde ich einfach da sein und dazugehören, und die Zeit wird verfliegen, und Familiendinge werden erledigt werden. Gemeinsame Entrümplungsaktionen, das Sichten des alten Krempels, den keiner mehr braucht und der doch da sein muss als unsere Basis im Keller. Und vielleicht werde ich dabei schmunzeln und das eine oder andere wiedererkennen, weil es ja auch mein Leben ist, weil es aus meinem Leben stammt: orangestichige Polaroidfotos, das Plüschtier mit dem fehlenden Auge, das selbstgemachte Bilderbuch, kleine Dinge der Liebe. Und auch Ana sitzt morgens beim Frühstück, natürlich, schon immer eigentlich – wir waren immer hier, diese Küche gehört uns, wir waren immer die Eltern in dieser Familie. Ganz plötzlich ist sie wieder da, die Gewissheit: dass es tatsächlich unser Leben ist.
    Ana kocht Kaffee und räumt die Einkäufe in den Kühlschrank, unser Sohn sitzt neben mir am Küchentisch und beißt sich auf die Zunge. Er macht Hausaufgaben. Der Fleißige. Der Kurze.

    Und mein Name wird Norbert der Gemütliche sein.
    Dachte ich am nächsten Morgen.
    Denn auf der Namenstasse auf dem Frühstückstisch stand Norbert und auf der Namenstasse der Mutter Susanne , und ich humpelte durch die Küche und sah mir auch die anderen schönen Dinge an, die es hier gab: die Ernährungspyramide, das Drei-Etagen-Obstnetz, die abonnierte Wochenzeitschrift, auf der ich den Namen der Familie fand: Wagner.
    Alles war ruhig.
    Die Eltern mussten zur Arbeit gegangen sein und der Sohn in die Schule.
    An der Wand neben der Küchentür gab es mit Bleistift gezeichnete Wachstumsmarkierungen, die mir besonders gefielen: Der Junge war jetzt 1,52 Meter groß, vorher war er 1,32 Meter, 1,18 Meter und 1,05 Meter groß gewesen – er wurde hier liebevoll hochgezogen wie eine Pflanze.
    Und ich überlegte grade, ob ich meine eigene Größe mit einem Strich hinzufügen sollte – aber plötzlich fand ich mich vor dem verchromten Kühlschrank wieder und sah mein Gesicht nicht mehr.
    Oder vielmehr: Ich sah eins, aber es konnte nicht meins sein, denn so konnte es nicht aussehen, dachte ich, nicht so bleich und nicht so geisterhaft.
    Und was machst du hier, dachte ich.
    Bist du wahnsinnig geworden.
    Hau sofort ab, sie kommen jeden Moment nach Hause.

4
    Plan B funktionierte dann besser.
    Wobei es trotzdem erst mal eine Niederlage war, weil kein Cent dabei rausgekommen war; und die ganzen nächsten Wochen regnete es wieder, das Grau bewegte sich in Wellen hinter dem Fenster unseres

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