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Das große Leuchten (German Edition)

Das große Leuchten (German Edition)

Titel: Das große Leuchten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Stichmann
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ich. «Ich will eine Wohnung.»
    «Ich auch. Wohnwagen ist viel zu kalt! Ich will auch eine Wohnung, ich will sparen und dann eine Wohnung finden!»
    Der Fingernagelpenner war auch noch da. Er stand bei uns im Gang. Das Döschen mit seinen Fingernägeln trug er jetzt an einer Kette um den Hals, umfasste es mit einer Kralle wie ein Amulett.

    Am zweiten Halt stiegen drei Männer in schwarzen Plastikjacken zu und setzten sich, und als die Bahn anfuhr, standen sie wieder auf und schoben sich ruppig nach vorne. Sie waren in Zivil, aber sie trugen ihre Uniformen deutlich im Gesicht.
    Lescek zuckte zusammen, als hätte er einen Schlag in den Nacken bekommen, dabei hatten wir Tickets gekauft. Ich brauchte eine ganze Weile, um das Problem zu begreifen: sein nichtvorhandener Pass. Natürlich, es war so, wie Ana gesagt hatte. Und während ich die Tickets rausholte, bemühte ich mich, ruhig und unbeteiligt zu wirken, ich drehte mich vom Penner weg und lächelte die Kontrolleure an – sie standen vor uns und fragten nur mit den Augen nach den Tickets, kaugummikauend, schweigend. Aber der Penner drückte von hinten, er schob sich an Lescek und mich, als hätten wir sein Ticket in der Tasche.
    «TICKET!», sagte einer der Kontrolleure zu ihm.
    Und Lescek schob ihn weg, aber der Penner umklammerte ihn, er kicherte und zeigte mit dem Finger auf mich, er riss sich sein Döschen vom Hals und gestikulierte unsinnig herum.
    «AUSWEISE! ALLE!»
    Die Kontrolleure standen plötzlich im Halbkreis um uns herum.
    Ich wusste nicht, ob sie so was durften und wie sie darauf kamen. Sie taten es einfach. Lescek suchte in seinen Jackentaschen, als gäbe es dort einen Ausweis zu finden.
    «Warum denn Ausweise?», sagte ich. «Wollen Sie nicht erst mal unsere Tickets sehen? Dürfen Sie das überhaupt?»
    Aber ich hatte meinen Ausweis sofort gezückt.
    Ich lächelte, so gut es ging.
    Und im nächsten Moment quietschte die Bahn, und die Türen gingen auf, und Lescek war draußen. Zwei von den Kontrolleuren rannten sofort hinterher, der dritte packte mich an der Jacke.
    Ich riss mich los, rannte in Lesceks Richtung über eine matschige Wiese, quer durch einen dunklen Stadtpark. Ein Fahrrad schleuderte über einen Weg. Der Kontrolleur brüllte irgendwas. Vor mir: leuchtende Geschäfte, Passagen, ein Platz. Ich bog ab und schob die Leute zur Seite, wurde selbst hin und her geschubst und versteckte mich hinter einer Säule. Neben mir schlief ein Mann ohne Beine, Luftballons hingen an seinem Rollstuhl, Kinder schrien durcheinander – und ich drehte mich um und sah schon wieder das Gesicht des Kontrolleurs: Er schob sich durch die Menge, unerklärlich roh, als würde er einen persönlichen Feind verfolgen. Aber er bewegte sich von mir weg. Er bewegte sich in die Richtung, in die Lescek gelaufen war.

    Ein Schneesturm braute sich zusammen. Ich brauchte Ewigkeiten, um zurück zu unserem Versteck in der Altstadt zu finden; Müdigkeit platzte in mir auf. Irgendwo leuchtete das wässrige U der U-Bahn, aber ich wollte nicht zurück ins Revier der Kontrolleure, ich humpelte lieber zu Fuß weiter, gegen den kalten Wind gestemmt.
    Erfolgreich?
    Sehr erfolgreich eigentlich. Erfolgreicher als gedacht, sagte ich mir. Ich hatte nicht nur das Holster mit der Pistole unter dem Parka, ich hatte auch immer noch den Stoffbeutel mit unserer Beute. Und warum sollte ich mir Sorgen um Lescek machen, wenn es doch am besten für mich wäre, ihn nie mehr zu sehen. Er ist schließlich kein Freund oder Familienmitglied oder so was, dachte ich.
    Dann wurde ich zur Seite geweht, marschierte wieder vor, taumelte in den Sturm hinein und bemerkte die Anwesenheit des Fingernagelpenners hinter mir. Das heißt, ich ließ mich in meine Müdigkeit fallen, während ich so ging, und so kam mir die Anwesenheit des Fingernagelpenners als Gedanke in den Sinn, ein unkontrollierter, beginnender Traum. Und es ist wohl eher die Anwesenheit eines inneren Verfolgers, so erklärte ich es mir in diesem Traum – eine Anwesenheit, die ich aber gleich wieder wegträumen kann. Und indem ich mich konzentrierte und schneller ging, funktionierte es auch – ich war allein, ich lief vollkommen allein durch den Schnee, den Lichtern entgegen, mit halbgeschlossenen Augen.

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    Tote
    1
    Ich blinzle, schüttle den Kopf, aber es hilft nichts, ich bin wach, natürlich bin ich wach, wir gehen am Strand entlang, Abu, Robert und ich, im allerersten Morgennebel am Kaspischen Meer. Zu dem Friedhof, auf

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