Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das große Leuchten (German Edition)

Das große Leuchten (German Edition)

Titel: Das große Leuchten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Stichmann
Vom Netzwerk:
nickte nur knapp, ohne ihn anzusehen.

    Die Rolltreppe schob uns in die künstliche Dämmerung einer Bahnhofshalle. Unverständliche Durchsagen schnarrten, Tauben blickten aus dem vollgeschissenen Metallgerüst herunter. Gegenüber gab es eine Reihe von kleinen Geschäften, aus denen rötliches Licht auf den Steinboden fiel; die Passanten traten Schneematsch breit und verschwanden in hallenden Tunneleingängen.
    Lescek legte mir eine Hand auf die Schulter und schob mich in einen versteckten Winkel, hinter eine Plakatwand, auf der ein Weihnachtsmann eine Limonade anlächelte. Er gab mir das Holster mit der Browning wieder, er sagte, die würde ihn erst mal nur behindern. Er müsse sich jetzt frei bewegen.
    «Warten!»
    Ich setzte mich auf eine Holzpalette, während er zwischen den Passanten verschwand. Nach einer Weile kam ein dünner Penner mit nervösen, fliegenden Augen zu mir rüber und wirkte verärgert – vielleicht gehörte die Holzpalette ihm. Er setzte sich neben mich und begann, sich die Fingernägel zu schneiden und sie in einem Döschen zu sammeln, und dabei sah er mich missmutig an. Speichel hatte sich in seinen Mundwinkeln zusammengefaselt.
    Ich ignorierte ihn, drehte mich weg und beobachtete Lescek. Er war vor einer der Kneipen zu sehen, verschwand wieder, tauchte fünfzig Meter weiter zwischen den Schließfächern noch mal auf, glitt beeindruckend körperlos zwischen den Leuten hindurch – stand plötzlich mit einer Stofftasche vor mir.
    «Teilen!»
    Es waren benutzte Taschentücher und eine offene Flasche Wein darin. Außerdem ein Brustbeutel mit Pferde-Motiv. Ich machte ihn auf, sah einen glatten, blauen 20-Euro-Schein, steckte ihn schnell ein und schaute mich um: Lescek war wieder weg.
    Der Penner hatte sich zur Seite gedreht. Als wollte er mit seinem Körper wenigstens den kleinen Urin-Winkel abschotten, der ihm geblieben war.
    Aber auf diese Weise könnte es wirklich funktionieren, dachte ich.
    Lescek blitzte nur ab und an zwischen den Leuten auf, er schien der Beweglichste in der ganzen Halle zu sein, und dann kam er mit einer Plastiktüte, in der eine Jacke und ein iPod waren; er brachte eine Packung Kippen und einen kleinen Lederbeutel, in dem sich zusammengerollt hundert Euro befanden, einfach so.
    Und sagte wieder: «Teilen!»

    Waren es die Wagners, die ich da zwischen den Passanten sah? Nein, es war eine andere Kleinfamilie, aber sie glich ihnen, und als ich die Augen zusammenkniff, meinte ich noch mehr Kleinfamilien wahrzunehmen, die den Wagners glichen. Sie kamen mit City-Rucksäcken und Kompaktregenschirmen aus den Tunneleingängen, die Kinder hatten Milchshakes mit Strohhalmen in den Händen. Und manche der Kleinfamilieneltern guckten ganz freundlich, aber diese Freundlichkeit galt nur ihnen selbst, ihren Kindern und Freunden, ihrer eigenen Kleinfamilienwelt.
    Ich wusste es jetzt, und es musste auch so sein.
    Wahrscheinlich war es genau das, was Frances mal gesagt hatte: dass die bürgerliche Kleinfamilie ignorante Menschen heranziehe, dass sie eine patriarchalische Zwangsgemeinschaft sei, in der alles Fremde ausgeschlossen werde. Nur dass mir alles daran gut und erstrebenswert schien. Sie waren immerhin Familien, sie liebten sich ganz offensichtlich, und schließlich konnte man nicht alle lieben, wer sollte ein so großes Herz besitzen. Manche sind eben draußen, dachte ich, aber dafür sind andere ja auch drinnen.
    Als Lescek das vierte Mal kam, hatte er zwei Bierdosen dabei. Der Penner stellte sich dazu, und wir stießen an, als wären wir selbst eine kleine Familie.

    Die Bahn ratterte wieder raus in den Tag. Es war noch nicht spät, aber draußen war es schon so dunkel, dass wir uns in den Scheiben spiegeln konnten. Ich stand neben Lescek und trug eine Stofftasche mit der gesammelten Beute über der Schulter; eine Fotokamera, zwei iPods und etwa vierhundert Euro waren es geworden. Wir wollten später teilen, das hatten wir abgemacht, obwohl ich inzwischen der Meinung war, dass er mir eigentlich alles überlassen könnte, wenn er sich wirklich einbringen und alles wiedergutmachen wollte.
    «Gutes Team», sagte er.
    «Jaja», sagte ich.
    Ich rechnete aus, dass mein Anteil immerhin fast für eine erste Wohnungsmiete reichen würde. Lescek hielt sich an einer Schlaufe fest und lächelte halb, er versuchte immer noch, das Geplauder in Gang zu halten. Sein kleiner Surfbrett-Anhänger baumelte hin und her.
    «Wollt ihr weiterreisen?», sagte er. «Wollt ihr weg?»
    «Ich nicht», sagte

Weitere Kostenlose Bücher