Das große Leuchten (German Edition)
dem Anas Mutter liegt. Onkel Bizhan hat das Grab gefunden, beziehungsweise die Tote, wie er sich ausgedrückt hat mit seiner harten, trockenen Stimme, und eine der Tanten von der Orangenfarm konnte sich auch wieder an sie erinnern, als ich ihr das Foto gezeigt habe. Simin, natürlich, ihre Freundin aus der Schule. Die, die früher am Waldrand gewohnt hat und immer so aufgedreht gewesen ist. Sie sei vor etwa zwanzig Jahren nach Deutschland geflohen, zusammen mit ihrem Freund und ihrem Baby – aber ein paar Monate nach der Flucht sei sie alleine zurückgekommen, weil sie unterwegs Probleme gekriegt habe und von ihrer Familie getrennt worden sei. Anschließend habe sie dann alles versucht, um doch noch nach Deutschland zu kommen, sie habe mit neuen Schleusern Kontakt aufgenommen, aber ein paar Tage vor der zweiten Flucht sei sie an einer Blutvergiftung gestorben.
Ganz sicher, Simin – seit fast zwanzig Jahren tot. Und eine Widerstandskämpferin sei sie eigentlich auch nicht gewesen.
Die Wellen bewegen sich dumpf. Abu und Robert sind schwarze Silhouetten vor mir im Nebel. Abu hat sich schon hundertmal bei mir entschuldigt, als könnte er irgendwas dafür. Ich solle das Ganze nicht zu tragisch nehmen, sagt er, schließlich sage es noch gar nichts über Anas Aufenthaltsort aus – aber mir wird trotzdem einiges klar, wie wir hier gehen. Dass Ana immer Märchen erzählt hat über ihre Mutter, dass sie nie diese Briefe von ihr bekommen haben kann, von denen sie manchmal erzählt hat. Und dass ich wahrscheinlich auch an Märchen geglaubt habe, die ganzen letzten zwei Jahre, bis heute. Weil ich hier als Held in den Orient reise, um mein Mädchen zu beschützen, vor einer Gefahr, die es offensichtlich gar nicht gibt; weil ich geglaubt habe, dass ich mich hier auf einer bedeutsamen Schicksalsfahrt befinde. Während in Wahrheit alles unendlich zufällig und chaotisch vor mir liegt. Und während Ana und ich uns wahrscheinlich nie so nah waren, wie ich dachte.
Das Kaspische Meer: nur Disteln und fischiger Gestank. Müll zwischen den Felsen. Abu zeigt auf ein rostiges Tor in der Nähe des Strandes und nennt den Namen des Friedhofs, der sich auf Persisch bedeutsam und feierlich anhört, tatsächlich heißt es aber nur Ort für Tote – der Friedhof Ort für Tote .
Robert nimmt seinen Anglerhut ab, als wir ihn betreten. Wir sollten jetzt erst mal in Ruhe nachdenken, sagt er, schließlich habe uns der Derwischmann zwar verarscht, aber eben auch nicht komplett – immerhin stimme die Adresse ja mit der des Friedhofs überein. Er könne sich vorstellen, dass das irgendwas bedeute, dass wir hier trotzdem richtig seien in irgendeiner Weise.
Keine Blumen. Kein Trinkbrunnen oder Geräteschuppen, keine Wege zwischen den Gräbern, nichts. Einfach ein flacher, sandiger Hügel mit ein paar Steinen hier und da. Tote unter der Erde.
Andererseits auch wieder ehrlich, denke ich, ein Friedhof, der wenigstens nicht so tut, als gäbe es zum Thema Tod noch irgendwas Kluges zu denken.
Abu sagt, dieses Schmucklose habe mit dem Islam zu tun, die Totenruhe sei besonders heilig, deshalb gebe es keine Grabpflege und keinen Totenkult; die Leiche komme schnell und ohne Sarg in die Erde und werde dann mehr oder weniger in Ruhe gelassen.
Jedenfalls angebrachter als der buntblühende Friedhof, auf dem meine Mutter begraben wurde, denke ich. Vom Kaspischen Meer kommt ein zurückhaltender Geruch, Sand, Stein und Salz, rau und trocken.
«Hier», sagt Abu. «Das müsste es sein.»
Er sieht mich an, guckt dann schnell wieder zu Boden. Andächtig, als hätten wir Simin gekannt. Ich sehe nichts als ein paar Grasbüschel, einen schlichten runden Stein, unter dem eine Frau liegt, die laut Abus Mutter gerne Fußball gespielt hat und tatsächlich so lebendig gewesen sein muss wie Ana. Um jetzt genauso abwesend zu sein. Denn in Wahrheit liegt sie hier ja nicht mal mehr, wie man immer sagt, genauso wenig wie meine Mutter noch irgendwo liegt. Hier hat sich der Rest von ihr aufgelöst , so müsste es heißen.
Wobei mir, während wir so stehen, klar wird, dass ich doch eine ziemlich lebendige Vorstellung von Simin habe, dass ich sie so vor mir sehe, wie ich mir meine Mutter manchmal als junge Frau vorgestellt habe. Drahtig und eigensinnig, immer im Kampf mit ihren Eltern, von denen ich so gut wie gar nichts weiß. Nur dass sie ganz anders gewesen sein müssen, in einer völlig anderen Zeit, auch wenn sie noch gar nicht so lange her ist. Und dass meine Mutter
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