Das große Los: Wie ich bei Günther Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr (German Edition)
Köpfen. Oder habe ich das schon geträumt?
Aufgewacht bin ich davon, dass ein kleines Gehege mit tschilpenden Küken in die Mitte des Raums getragen wurde. Unglaublich, tatsächlich schon halb acht! Die Bühnensonne ging auf, alle räkelten sich in den Betten. So ein gemeinsames Aufwachen unter Wildfremden ist ganz wunderbar. » Did you dream?«, fragte mich eine der Französinnen von nebenan, und der Mann auf meiner anderen Seite erzählte, dass er erst um halb vier eingeschlafen ist, weil er unter der Bettdecke Videogames auf dem Handy gespielt hat wie ein Zehnjähriger. Er rekapitulierte, was ich gestern Nacht verpasst habe: Vorträge über das menschliche Nervensystem und seine Verbindung zum pythagoräischen Modell des Weltalls– eigentlich unmöglich, bei so etwas wach zu bleiben, aber er hat es geschafft. Wir rollten uns aus den Betten und wurden durch ein paar Kulissengänge geführt. In der Theaterkantine war schon das Frühstück für uns aufgebaut: Toast und Croissants, weiche Eier und Orangensaft, literweise Tee. Und überall nur das, was man sonst morgens selten sieht: lächelnde Gesichter. In Pyjamas.
Überhaupt habe ich hier in London auffällig mehr Gemeinschaftserlebnisse als in den anderen Städten. Keine Ahnung, ob auch das wieder Zufall ist oder ob ich das nach sechs Monaten überwiegendem Egotrip besonders forciere. Ich habe Lust auf Leute, Lust auf Konzerte, Lust auf Abende wie den sonntäglichen Sing-a-long im Pub The Duke of Kendal, wo June, eine 90- jährige Dame mit Pudellöckchen, Hobbysänger auf einem alten Piano begleitet und der ganze Laden, ich eingeschlossen, lautstark die Refrains mitsingt.
Ich habe ja schon erwähnt, dass London-Besuche Reisen in die Vergangenheit für mich sind: Ich begegne hier verschütteten Leidenschaften, die ich irgendwann mal gepflegt habe, die mir im Lauf der Jahre aber abhandengekommen sind. Wie das halt so oft passiert, in der Regel mit den schönsten Lieben, ohne dass man weiß, warum.
Ich schätze, jeder hat eine bis mehrere peinliche oder zumindest erklärungsbedürftige Passionen, und eine von meinen (ich fürchte, ich habe eine Menge) ist Sticken. Richtig gelesen: Sticken. Sittsame Handarbeit. Ich habe das bestimmt 15 Jahre lang nicht mehr gemacht. Dabei mochte ich daran immer die Langsamkeit, das Halbanwesende, das Wegdriften, die Möglichkeit, dabei Radio zu hören oder einfach nur nachzudenken. Andere machen Yoga oder gehen zum Meditieren ins Kloster, ich sticke. Hatte ich nur vergessen. Auch dazu ist das Reisen ja wunderbar: wieder zu entdecken, was einem Freude macht– und warum.
Also landete ich an einem Samstagnachmittag in einem Stickkurs in der Idler Academy. Die sagt Dir vermutlich wenig, deshalb muss ich ein bisschen ausholen. Ich bin ein großer Fan von Tom Hodgkinson, dem Hohepriester des intelligenten Müßiggangs. Er hat zwei charmante Bücher geschrieben: How to be idle und How to be free: Anleitungen, wie man der Hamsterrad-Existenz entkommt und sich mehr Zeit für Dinge nimmt, die einen wirklich bereichern. Work less, do more, könnte man seine Ideologie zusammenfassen .
Toms Vorstellungen sind nicht jedermanns Sache, aber ziemlich genau meine: sich von sinnlosem Besitz und eingebildeten Verpflichtungen befreien, stattdessen lieber etwas Neues lernen, Ukulele spielen, deutlich zu viel trinken und dabei verboten viel Spaß haben. Als ich entdeckte, dass er neuerdings eine Buchhandlung mit einem Café und einer Akademie für den vierten Bildungsweg betreibt, in der man unter anderem Kurse in Latein, Wolkenkunde und Sockenstopfen belegen kann, war ich entzückt.
Und wie so oft fand ich bestätigt: Merkwürdige Ideen ziehen interessante Leute an. Im Stickkurs saßen außer mir Allison, eine Indie-Plattenproduzentin, Rebecca, Digital Manager bei einem Zeitungsverlag (an der Tatsache, dass es immer mehr Berufsbezeichnungen gibt, die man mir erst erklären muss, merke ich, wie alt ich bin), die Schauspielprofessorin Isabel und unsere Lehrerin Sally Nencini, die früher mal Designerin bei Levi’s war.
Es war, wie man sich vorstellen kann, wahnsinnig lustig: Lauter Frauen, die irgendwann mal in der Schule gestickt haben, eigentlich überhaupt keine Zeit hatten für solchen altmodischen Weiberkram, aber umso trotziger sich genau diese Zeit einfach nahmen, hier fünf Stunden auf altem Schulgestühl zu hocken und den Kettenstich neu zu lernen. Und sich dabei Sachen zu erzählen, die man sonst einfach nicht erzählt. Es war einmal
Weitere Kostenlose Bücher