Das große Los: Wie ich bei Günther Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr (German Edition)
schwerer. Am meisten ich selbst sein konnte ich vermutlich in San Francisco. Aber geht es nicht eher darum, die eigenen Grenzen ein wenig elastischer zu machen? Dann wären es Indien und Shanghai, dort wurde ich am meisten irritiert, am meisten aufgescheucht, und auch das hat mir gefallen. Wenn auch mehr in der Rückschau, muss ich zugeben.
Michelle wiederum hat es inzwischen geschafft, ihre beiden scheinbar so widersprüchlichen Berufe zu einem Projekt zu vereinen: Sie inszeniert Schulungsvideos für britische Firmen zum Thema der neuen Antikorruptionsgesetze. Nicht nur lebt sie glücklich mit ihrem großen S owohl/als auch , jetzt befruchten sich die beiden Pole auch noch. Sehr ermutigend, oder? Aber ich schätze, Du weißt besser als viele andere, wie so was gehen kann, mit Deinem Doppelleben als Naturwissenschaftler und Schriftsteller.
Ich war also auf dem besten Weg, ein glückliches Fädchen im Londoner Gewebe zu werden, da riss es mich doch noch mal hinaus aufs Land. In einer Zeitschrift hatte ich Fotos von einem Haus gesehen, das mich faszinierte, von der Balancing Barn in Suffolk, einer halb über einem Abgrund schwebenden Wohnscheune eines Vereins, der den Briten mit ungewöhnlichen Ferienhäusern moderne Architektur nahebringen will. Kurzentschlossen hatte ich es für ein paar Tage gemietet.
Per Rundmail an meine Freunde hatte ich gefragt, ob jemand Lust hätte mitzukommen. Meine Berliner Freundin Anja machte sich auf den Weg.
Ich bin kein großer Landfan, meine Reise sähe sonst wohl auch anders aus. Großstädte bieten Überraschungen, Begegnungen, Anregungen, Optionen– also alles, was ich suchte. Städte machen Vorschläge, Dörfer erlassen Verbote (ja, das ist ungerecht– Du weißt, was ich meine). Aber dieses Haus war so wunderbar unniedlich und urban, eine verspiegelte Unverschämtheit inmitten der Landschaft, dass ich es sofort mochte. Und erst recht den Glücksfall eines Regentages, verbunden mit einer phantastischen Hausbibliothek.
Ryszard Kapuscinskis Buch über Haile Selassie! Woher wussten die, dass ich im November nach Äthiopien fahre? Die Ringe des Saturn von W. G.Sebald! Hast Du auch solche Bücher, die Du schon immer mal lesen wolltest, bis Du dann endlich in eine Situation kommst, wo die Bücher von Dir gelesen werden wollen? Sebalds Buch ist so eines für mich. Es stand schon lange auf meiner Leseliste– und nun kamen wir zwei endlich zusammen. Sebald schildert darin mäandernd und melancholisch seine Wanderung durch die spärlich besiedelte Landschaft von Suffolk, also durch genau die Gegend, in der das Haus steht. Erinnerungen, Assoziationen und Momente der Weltgeschichte schlendern im Fußtempo in die Erzählung hinein und wieder hinaus. Ich habe mich sofort darin festgelesen, vielleicht weil ich mich oft dabei ertappe, ähnlich wie Sebald meine Umgebung als Ausgangspunkt für Gedankenspaziergänge zu missbrauchen.
Aber ich war ja nicht zum Lesen hier. Mit Anja erlebte ich dasselbe wie mit meiner Freundin Rose in Indien: Kaum bewegt man sich aus der gewohnten Umgebung heraus, drehen sich auch die Gespräche um Ungewohntes. Um Lebenspläne, um Bestandsaufnahmen, um Grundsätzliches. Vielleicht wirkt aber auch mein Projekt ein bisschen wie ein Katalysator. Ich habe den Eindruck: Wann immer ich derzeit mit jemandem darüber spreche, was ich gerade mache, kommt beim anderen etwas in Bewegung. Und Fragen steigen auf: Was würde ich an ihrer Stelle machen/wohin würde ich fahren/wie sieht mein Leben gerade aus/was für Träume möchte ich noch verwirklichen/bin ich glücklich? So ungefähr. Ich habe noch nie in meinem Leben so viele so tief gehende Gespräche geführt wie in diesem Jahr. Eine schöne Übung– und das gerade in diesem seltsam schwebenden, aufregend verunsichernden Haus.
Aber auch die Landschaft gab eine andere Tonlage vor. Als wir eines Morgens über die Dörfer nach Dunwich fuhren, war die Sebald’sche Melancholie fast mit Händen zu greifen. Im Mittelalter war Dunwich die sechstgrößte Stadt von England und eine der wichtigsten Hafenstädte von Europa, heute findet man nur noch zehn Häuser, ein Museum und eine Fish & Chips-Bude. » Das Interessanteste an Dunwich ist das, was es nicht mehr gibt«, wie der schulheftdünne Ortsführer so richtig schreibt. Im 13. Jahrhundert schluckte ein Sturm fast ein Viertel der Stadt, der Hafen wurde unnutzbar, und ohne Einnahmen fehlte auch das Geld, sich gegen die gefräßige See anzustemmen. Ein Haus nach dem anderen
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